tegut… Ihr Supermarkt für gute Lebensmittel

Interview mit Valentin Thurn, Macher der Dokumentation "Taste the Waste"

Über unseren Umgang mit Lebensmitteln und die globale Dimension der Verschwendung

Große Masse an Brot und Backwaren werden in einen Müllcontainer geleert

Valentin Thurn spricht im Interview über das brisante Thema, dessen Ursachen und dessen Folgen.

Wie kam es, dass Sie sich so intensiv mit dem Thema Lebensmittelverschwendung beschäftigt haben?

Valentin Thurn: Im Grunde sind das zwei Geschichten. Zum einen brachte mich eine Reportage darauf, die wir über Mülltaucher gedreht haben. Mülltaucher sind junge Leute, die in Großstädten essbare Lebensmittel aus den Abfalltonnen der Supermärkte herausangeln, was illegal ist. Zum anderen haben mich meine Herkunft und Erziehung für das Thema sensibilisiert. Meine Mutter hat uns Kinder immer zum achtsamen Umgang mit Lebensmitteln ermahnt, wie es bei vielen Menschen aus der Kriegsgeneration üblich ist. 

Ihre Einstellung war zudem durch sehr schlimme Kindheitserlebnisse geprägt: Sie gehörte zur deutschen Minderheit, die auf dem Balkan lebte. Nach dem Krieg kam sie mit meiner Großmutter in ein Internierungslager. Für die Gefangenen gab es viel zu wenig zu essen. Meine Großmutter steckte ihrer Tochter einen Teil ihrer Rationen zu. Sie selbst ist an Unterernährung gestorben, aber meine Mutter hat das Lager überlebt. Lebensmittel waren für sie daher noch etwas wertvoller als für andere, die nicht hautnah erlebt haben, dass ein extremer Mangel Menschenleben kostet.

Wie hat sich diese Erfahrung in Ihrem Alltag bemerkbar gemacht?

Meine Mutter hat uns beispielsweise immer ermahnt, unseren Teller leer zu essen. Kinder in Afrika würden sich über so viel gutes Essen freuen. Heute ist es in der Tat so: Menschen leiden in anderen Teilen der Welt auch deshalb Hunger, weil wir Lebensmittel im Überfluss kaufen und dann wegwerfen.

In Ihrem Buch erzählen Sie von einer Frau aus Kamerun, die auf dem Pariser Großmarkt hilft, Lebensmittel-Abfälle zu sortieren. Weil sie sich dagegen auflehnt, dass noch genießbare Nahrungsmittel in den Müll wandern, wird sie entlassen. Schildern Sie den Lesern doch einmal, wie die Menschen in  Kamerun unsere Gewohnheiten des ständig verfügbaren Überflusses zu spüren bekommen.

Das eine Problem sind die EU-Normen, denen die Lebensmittel entsprechen müssen, die Kamerun und andere Länder Afrikas exportieren. Bananen beispielsweise dürfen weder zu krumm noch zu gerade und sie müssen mindestens in Fünfer-Bündeln gewachsen sein. Allein dadurch gehen mindestens zehn Prozent der Ernte einer Plantage verloren. Bedingt durch Klima und Infrastruktur schaffen es die Bananen, die der europäische Lebensmittelhandel nicht will, allerdings nur bis ins nächste Dorf. Das andere Problem ist die zunehmende Abhängigkeit der Kameruner von Lebensmittel-Importen, vor allem bei Getreide. Die Getreidepreise steigen tendenziell. Hier spielt die zunehmende Verknappung von Ackerflächen für die Lebensmittelerzeugung durch den Anbau pflanzlicher Rohstoffe zur Benzin- und Energiegewinnung eine wichtige Rolle. Unsere Konsumgewohnheiten, die zur massenhaften Überversorgung mit Backwaren führen, kommen als Preistreiber hinzu. Kunden erwarten bis Ladenschluss beim Bäcker volle Theken und uneingeschränkte Auswahl. Fast niemand kauft mehr Brot vom Vortag. So werden Backwaren besonders häufig weggeworfen. In Kamerun geben die Ärmsten 80 Prozent ihres Einkommens für Nahrungsmittel aus. Bei steigenden Preisen besteht hier kaum noch Spielraum.

Pro Kopf und Jahr entsorgt jeder Deutsche durchschnittlich circa 80 kg Lebensmittel in den Müll, zwischen 95 und 115 Kilo pro Kopf und Jahr werfen Europäer und Amerikaner weg. Das haben Ihre Recherchen ergeben. Auch andere Untersuchungen bestätigen diese Zahlen. Dabei verurteilen alle Weltreligionen und gesellschaftlichen Wertesysteme das Verschwenden von Lebensmitteln. Wie kommt es, dass dieser Widerspruch noch nicht lauter kritisiert wurde? 

Für mich gibt es nur eine psychologische Erklärung: Während der Arbeit an dem Buch und dem Film habe ich mit vielen Menschen gesprochen, die Lebensmittel im großen Stil vernichten müssen, etwa Leiter und Mitarbeiter von Supermärkten und von Abfall-Entsorgungsunternehmen. Jedem war das unangenehm. Aus meiner Sicht handelt es sich um die des Menschen eigene Art der Verdrängung.

In England ermuntern mittlerweile Kampagnen Kunden zum besser geplanten Einkauf. Wie könnten derartige Aktionen in Deutschland aussehen?

Beispielsweise könnten Angebote „Zahle ein Produkt – nimm zwei“ durch „Zahle eins – bekomme ein zweites später“ abgelöst werden. Wichtig dabei ist, dass der Kunde die Hintergründe versteht, die zum Wegwerfen genießbarer Lebensmittel führen, und Veränderungen akzeptiert. Langfristig müsste er beispielsweise Verständnis dafür haben, dass nicht jedes frische Lebensmittel bis Ladenschluss verfügbar ist.

Wie gehen Sie in Ihrem Haushalt vor, um das unnötige Wegwerfen von Lebensmitteln zu vermeiden?

Wir kochen relativ viel frisch und kaufen wenig vorportionierte Packungen. Diese sind meistens zu groß, auch für Familien. Einkaufen findet bei mir immer mit Einkaufszettel statt. Frische Lebensmittel kaufe ich mehrmals in der Woche. Der tatsächliche Bedarf für eine gesamte Woche lässt sich schlecht einschätzen. Reste werden bei uns gegessen oder eingefroren.

Unser Auge hat sich im Supermarkt an die permanente Verfügbarkeit und an das makellose Aussehen der Produkte gewöhnt. Muss hier nicht auch ein Umdenken stattfinden?

Das müsste schon passieren. Das weit verbreitete Empfinden, Lebensmittel müssen jederzeit in großer Vielfalt greifbar und makellos sein, muss sich ändern. Was mich am meisten geschockt hat, ist das gigantische Potential beim Kartoffelanbau. 40 bis 50 Prozent der Ernte wird aussortiert, weil eine Kartoffel nicht zu groß, nicht zu klein und nicht zu unförmig sein darf. Ich habe selbst gemerkt, dass man sich als Städter Lebensmittelwissen regelrecht erarbeiten muss. Mit dem Wissen um den Aufwand der Lebensmittelerzeugung steigt auch die Achtung vor Lebensmitteln. Das fängt schon an, wenn mehr Menschen auf dem Balkon oder im Garten selbst Gemüse aufziehen. Eigentlich müsste es in der Schule mittlerweile ein wieder Schulfach Kochen geben, finde ich. 

Mit Valentin Thurn sprach Gisela Burger, freie Journalistin und Autorin, Würzburg. 

von Online-Redaktion