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Die Ding-Diät

Blonde Frau mit blauer Bluse vor Bild
Foto: Caren Detje

Mit 10.000 Dingen, sagt die Statistik, teilen wir hierzulande im Schnitt unsere Wohnung. Viel zu viel. Unsere Autorin beschloss, zumindest ihr Bücherregal ordentlich abzuspecken. Vom „Alles auf null“-Ideal blieb sie jedoch meterweit entfernt – aus guten Gründen.

Bücher sind mein zweites Zuhause. In ihnen lebe ich auf unendlichen Quadratmetern. Das ist einerseits sehr kostengünstig, denn für diesen Zweitwohnsitz muss ich weder Miete noch Steuern zahlen. Andererseits hat es eben doch seinen Preis: Meter und Meter von Büchern, die mein erstes Zuhause, dessen Quadratmeterzahl durchaus limitiert ist, zusehends kleiner werden lassen.

Die Rechnung geht ungefähr so: Pro gewonnenem Lebensjahr schrumpft mein Lebensraum um 100 Zentimeter. So sehr ich mein zweites Zuhause liebe, es wächst mir langsam über den Kopf – was ich an der Tatsache merke, dass ich, um neue Bücher abzulegen, immer erst auf einen kippligen Stuhl steigen muss, um die letzte freie Regalfläche zu erreichen.

Weniger ist mehr

Also beschloss ich an einem Wochenende, an dem es in Strömen goss und das Draußen mir zurief: „Jetzt ist dein Moment gekommen, Aufräumkönigin Marie Kondo zu huldigen!“, diesem Regal zu Leibe zu rücken. Das Ziel: Mindestens die Hälfte der Bücher sollte ausziehen, die andere Hälfte ein System bekommen. Dazu muss man wissen, dass meine Bücher zwei- bis dreireihig hintereinanderstehen. Lange hatte ich danach gehandelt, für jedes neue ein altes in die hintere Reihe zu verbannen. Doch leider habe ich alles andere als ein fotografisches Gedächtnis.

Ein Teil der Freude am Besitz guter Bücher ist ja, dass man mitten im Gespräch mit einer Freundin, sagen wir über das Thema Vergeben und Vergessen, aufspringen kann und in wenigen Minuten mit einem passenden Band zurückkehrt, der genau dazu wunderbare Gedanken beiträgt. Nie war ich diese Frau, die so nonchalant ihre Bibliothek befragen konnte. Will ich einen Lieblingsroman verleihen, finde ich ihn nicht wieder. Will ich den neuen Ian McEwan zu den alten stellen, sind seine Romane in der ganzen Wohnung inklusive dem Keller verstreut, denn schließlich lese ich schon seit mindestens 20 Jahren Bücher dieses Autors.

 Illustrierte Bücher-Kacheln mit Kopf und Hand

Alles raus aus den Regalen

Nun also mein Marie-Kondo-Moment: Erst einmal alle Bücher herausholen und im Zimmer verteilen für die gründliche Sichtung, so mein Plan. Nur noch auf Zehenspitzen kann ich danach über den Boden unseres Wohnzimmers balancieren, denn jeder Zentimeter ist gepflastert mit einem Buch. Was für ein chaotisches Mosaik, ich muss an quälende 1.000-Teile-Puzzles denken. Vor Überforderung und Bücherstaub juckt es mich am ganzen Körper. Kurz überkommt mich die Lust, nach draußen in den Starkregen zu fliehen, dann siegt meine Disziplin und ich knie mich vorsichtig nieder zum ersten Exemplar – eine Biografie des Künstlers Joseph Beuys.

Ein Ziegelstein von einem Buch, wenn ich das ins Tauschregel bei mir in der Nachbarschaft stelle, hätte ich zwar stattliche fünf Zentimeter Platz gewonnen, aber wer würde den Beuys mit nach Hause nehmen? Ich sehe es vor mir, wie die 600 Seiten vom Regen aufgeweicht würden und ihr kostbarer Inhalt nur noch hässliche Pampe wäre.

Das kann ich Beuys nicht antun. Und überhaupt, hatte ich nicht damals dieses großartige Seminar über ihn belegt? Wie hieß noch gleich die Dozentin? Das Bild des Hörsaals steigt in mir auf, sogar seinen Betongeruch erinnere ich jetzt und leise Wehmut kitzelt mich. Also erst mal zur Seite mit Beuys, der ist der Beginn für meinen Buchstabe-B-Stapel, beschließe ich.

Erinnerungen werden wach

Was soll ich sagen? Es ging so weiter: „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“? Das hatte ich doch damals beim ersten Date auch bei W. im Regal entdeckt! Wir scherzten beide: „Das geht ja gut los, wenn wir das gleiche Gespür für Bücher haben.“ Ich vermute, irgendwo in der Wohnung ist noch ein zweites Exemplar, denn W. und ich sind danach zusammengekommen und -geblieben.

Nun aber: „Moroccan Interiors“, das kann jetzt aber wirklich in die Tonne und schon hätte mein Wohnzimmer ein Kilo abgenommen! Dann aber ragen drei Post-its heraus, ich schaue nach und sehe: Das sind ja die Bilder, nach denen wir damals unsere Küche umgebaut haben. Genau diese Fliesen wollte ich haben – und habe sie nach ewiger Suche tatsächlich bekommen.

Biografiearbeit

Was ich an diesem Aufräumsonntag erlebte, war fast so etwas wie Biografiearbeit. Ich schaute mir mein Leben rückwärts an, jedes Cover erzählte von einer anderen Zeit, die Seiten atmeten Geschichte – meine Geschichte. Und ich merkte: Wovon wir uns nicht trennen können, das sind gar nicht die Dinge an sich – seien es nun Bücher, Kleider oder lange gehorteter Krimskrams –, es sind die Erlebnisse, die wir mit ihnen verbinden, die Menschen, an die sie uns erinnern, und das Ich, das wir früher einmal waren.

Vor meinem zweiten Zuhause habe ich kapituliert, es wird weiterwachsen, so wie meine Neugier. Zur Kompensation schuf ich noch am gleichen Tag ordentlich Platz auf meinem Mobiltelefon, ehrlicherweise mittlerweile mein drittes Zuhause. Ich habe einfach bis auf die Foto- und Bank-App alle 73 Apps gelöscht, zurück auf Null. Es hat keinen Staub aufgewirbelt und war eine Sache von Minuten: Finger draufhalten, auf Minus drücken und weg damit! Eiskalt und effizient.

Meine Vergangenheit steht jetzt gut sortiert von A bis Z hinter mir im Regal, die Zukunft hat noch viel freien Speicherplatz. Ich glaube, ich werde diese Methode patentieren lassen – unter dem Motto „Entlastet das innere Betriebssystem und frischt das Memoboard erfreulich auf“.

Andrea Huss, Journalistin und Business-Coach

Sie hat sogar mal ein Seminar zum Thema „Weniger ist mehr“ gegeben. Theoretisch ist ihr also klar, wie entlastend weniger Besitz wäre. Praktisch hat sie die Buchwelt aber sogar noch um ein Exemplar angefüllt: In „145 Fragen zur Liebe“ stellt sie zusammen mit Ulrich Hoffmann die wichtigsten Studien zu glücklichen Beziehungen vor. Falls Sie also noch eine Lücke von vier Zentimetern im Regal frei haben…

von Online-Redaktion