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Rotz & Wasser

Illustration
Illustration: Dorothea Pluta

Hach, ist das schön traurig! Unsere Kolumnistin Meike Winnemuth genießt es, im Kino den Tränen freien Lauf zu lassen.

Also, diese Stelle in „Die Brücken am Fluss“, fast am Schluss. Wo sie sich eigentlich schon getrennt haben, Meryl Streep und Clint Eastwood. Sie sind füreinander bestimmt, und doch bringt sie es nicht über sich, ihre langweilige Hillbilly-Familie zu verlassen. Traurig, aber es wird noch besser.

Sie fährt mit ihrem Hillbilly-Mann in die Stadt. Es regnet. Sie sieht Clint in seinem Pick-up-Truck. Er hat gerade Vorräte gekauft, um endgültig die Gegend zu verlassen. Er schwenkt in die Straße ein, fährt vor ihr und ihrem Mann. Hält an einer Ampel. Hängt das Kreuz, das sie ihm geschenkt hat, an den Rückspiegel. Ein Zeichen. Er weiß, dass sie im Wagen hinter ihm sitzt. Sie muss nur aussteigen, sich in sein Auto setzen und mit ihm ins Happy End fahren. Sie hat die Hand am Türöffner. Lange. Die Ampel springt auf Grün. Clint fährt los. Meryl bleibt zurück. Es ist zu spät, für Meryl und für mich. Die Regentropfen rinnen die Scheibe hinunter, meine Tränen treten über die Ufer, erst ganz sachte in den Augenwinkeln, dann über die volle Breitseite.

Männer weinen nicht, die haben was im Auge...

Und die Tränensturzbäche werden immer schön da oben auf der Leinwand nachgefüllt: Meryls Kinder erfahren nach ihrem Tod, welches Opfer ihre Mutter für sie gebracht hat, und verstreuen ihre Asche da, wo sie mit Clint so glücklich war. Die Musik schwillt an, meine Nase schwillt zu. Es ist großartig. Und viel zu schnell vorbei. Das Licht geht an, wir Frauen im Publikum gucken uns an und lachen ein bisschen verlegen und sagen „O Gott“ und gehen aufs Klo, um die Mascara-Rinnsale aufzufeudeln und die rote Nase zu pudern, und danach geht man erst mal was Anständiges essen.

Weinen in der Öffentlichkeit

Denn Weinen ist nichts für Weicheier. Weinen in der Öffentlichkeit ist wie Nacktsein. Zwar bietet die Dunkelheit des Kinos Schutz, aber trotzdem: Die Erfahrung, in einem Saal voller Wildfremder Rotz und Wasser um eine 45-jährige Landpomeranze zu weinen, geht an die Substanz, da wackelt manches Selbstbild. Ist schon heftig, so den eigenen Drüsen ausgeliefert zu sein, die selbst dann nicht unter Kontrolle zu kriegen sind, wenn man den Film schon tausendmal gesehen hat.

Doch eigentlich weint man im Kino selten unter seinem Niveau. Während man im wahren Leben Tränen meist aus Selbstmitleid, verletzter Eitelkeit und anderen niederen Instinkten vergießt, weint man im Kino heroischer. Heldentod, Aufopferung, große Liebe – die Tränen im Kino sind edelherb bis zartbitter und verleihen für kurze Zeit die Illusion, man sei, wenn schon nicht zu großen Taten, zumindest zu tiefen Gefühlen fähig.

Acht Euro, um sich wunderbar sensibel und irgendwie nobel zu fühlen – wirklich nicht zu viel verlangt. Denn das Gefühl nach einem gelungenen Heulkrampf ist unbeschreiblich. Man ist leer und leise, auf angenehme Weise erschöpft und würdevoll melancholisch. Aristoteles rühmte Tragödien als reinigend, geradezu therapeutisch: All die krank machenden Körpersäfte, so seine Theorie, würden einfach hinweggeschwemmt.

Tränen bauen Stresshormone ab

Tatsächlich haben Forscher festgestellt, dass bei emotionalen Tränen (im Unterschied zu Zwiebelschneidtränen) Stresshormone abgebaut werden. Doch Produktionsfirmen sind äußerst vorsichtig damit, Filme als „Tearjerker“ zu verkaufen, um nicht von vorherein die Hälfte des potenziellen Publikums in die Flucht zu schlagen: die Männer. Männer weinen ja nicht, sondern haben was im Auge. Brillen beschlagen, Adamsäpfel heben und senken sich, Kinne zittern, aber heulen, nein, ums Verrecken nicht. Der vermutlich erste Film, bei dem es für Männer in Ordnung ging, zu weinen, war „Der Club der toten Dichter“.

Das Schöne am Weinen ist, dass es verlässlicher und unerschütterlicher ist als Lachen. Bei mir reichte es jahrelang, im Céline-Dion-Video von „My Heart Will Go On“ nur den Bruchteil einer Sekunde jener „Titanic“-Szene zu sehen, wo das alte Paar sich aneinandergeschmiegt zum Sterben in die Koje legt, um selbst in irgendwelchen Cafés, wo MTV lief, in Tränen auszubrechen. Also, wenn ich jetzt gerade daran denke … Entschuldigung, es geht schon wieder los.

Autorin Meike Winnemuth

Portrait Maike Winnemuth

Sie kommt aus Neumünster, lebt in Hamburg und ist Journalistin, Autorin und preisgekrönte Bloggerin. Ihr neuestes Projekt: ein eigener Garten, in dem sogar Gemüse wachsen soll. Was ihr zwischen Radieschen und Schnecken widerfährt, erzählt sie gewohnt amüsant in „Bin im Garten“ (Penguin Verlag).

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Text erstmals erschienen 2013 im „SZ-Magazin“

Von Meike Winnemuth

von Online-Redaktion