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Mit allen Sinnen

Mann mit kleiner Pflanze in der Hand
Wie wäre es, gleich morgen mit der ersten Spezies anzufangen – einem Strauch, einem Vogel, einem Pilz – und sich mit ihr bekannt zu machen? | Foto: Stocksy

Mindestens so spannend wie Social Media und Netflix – eine Entdeckungsreise durch Flora und Fauna.

Natur erleben

Wann haben Sie zuletzt ein Blatt in den Mund genommen, um zu erfahren, wie es schmeckt? Ein Insekt in seinem Tun beobachtet? Haben Sie einmal einen Geruch – das Cumarin beispielsweise, das im Waldmeister genauso duftet wie in geschnittenem Sommerheu und in der weihnachtlichen Zimtkassie – durch ein Jahr hindurch begleitet?

Es gibt eine Wahrnehmung, die überwältigt und verbirgt, und eine, die die Dinge enthüllt, sie mit uns in Beziehung setzt. Üblicherweise nehmen wir unsere natürliche Umwelt nicht mehr direkt wahr, wir riechen sie manchmal, wir fassen sie selten an, wir schmecken sie kaum. Wir sehen sie vorbeirasen durch Auto oder Zugfenster oder vermittelt auf Bildschirmen und Displays.

Unsere Sinne erleben einen Ersatz, wenn wir glauben, Natur zu erleben. Jene andere Wahrnehmung aber, die enthüllt, verlangt Zeit und Aufmerksamkeit. Unser Grundstück in SchleswigHolstein ist so bemessen, dass eine Familie sich selbst versorgen könnte, es gibt alte Obstbäume und Beerensträucher, genügend Holz liefert eine baumbestandene Schlucht. Der Brunnen hat selbst in Dürrejahren Wasser.

Natur beobachten

Seit wir hier wohnen, haben die Anforderungen des Geländes unsere Wahrnehmung geformt: Stürme und Eschenpilz knicken Bäume, der Winter ist die Zeit des Holzmachens. Die Wiesen müssen zweimal im Jahr gemäht, das Heu als Einstreu getrocknet und eingelagert werden. Die Hühner stehen bei Sonnenaufgang auf und sitzen bei Einbruch der Dämmerung wieder auf ihrer Stange, ein Phänomen für eine ehemalige Großstadtfamilie, die an Öffnungszeiten rund um die Uhr gewöhnt war.

Im Sommer gibt es Erdbeeren und Kirschen, Johannis, Stachel, Josta und Taybeeren folgen, im Frühherbst Pflaumen und Mirabellen, später Äpfel, Quitten und Zwetschgen.

Die Farben des Geländes folgen den Jahreszeiten: Weiße Teppiche aus Schneeglöckchen im Frühjahr, in die gelbe Inseln von Winterlingen getupft sind, frisches, durchscheinendes Buchengrün folgt und gibt den robusten Farben des Sommers Raum.

Der Herbst fordert die Farben zurück. Sie wandern von den Bäumen auf den Boden. Unterm Birnbaum braunschwarze Sprenkel, unterm Walnussbaum ein fröhliches Gelb, ein glimmend rotgelber Teppich unter der alten Kirsche, hellgelbes Gestöber der Birken. In den Himmeln ein Flimmern der Verzweigungen, wie die Mündungsgebiete großer Flüsse.

Überall gibt es etwas zu entdecken. Fängt man erst einmal an, geht es einem so wie den Figuren in einer Geschichte von Jorge Luis Borges, der sich vornahm, einmal die rechte obere Ecke seines Schreibtischs genau zu beschreiben, und schon von der Fülle an Eigenschaften eines Bleistiftes, der dort lag, überwältigt wurde.

Für jedes Tier, jede Pflanze, jeden Pilz gibt es nicht nur einen wissenschaftlichen, sondern eine Vielzahl an volkstümlichen Namen. Dazu Beschreibungen, Nutzungs- und Einsatzmöglichkeiten, Warnungen, aber auch Geschichten und Fabeln. Wie wenige Namen von Pflanzen und Tieren kennen wir, wie wenig wissen wir um den Reichtum um uns herum und wie unfähig sind wir mittlerweile, auf eine selbstverständliche, vertraute Art mit dem Nichtmenschlichen umzugehen?

Vielfältige Umgebung

Je aufmerksamer ich das Gelände um unser Haus herum beobachte, desto vielfältiger wird es. In diesem Austausch wird auch das Wissen der Vorfahren wieder lebendig. Wie mutig griffen sie in die Fülle ihrer Umwelt, nutzten sie pragmatisch für Ernährung und Heilung, aber auch für Austausch und Selbstvergewisserung. Noch meine Großmutter wusste, dass unter den Blütenschirmchen der Akeleien Elfen tanzten, aber sie wusste auch, dass Beinwell als Heilmittel für Knochenverletzungen hilfreich und ein guter Dünger für Tomaten ist. Dieses Wissen ist aus vielen Erfahrungen und Versuchen erwachsen, aber auch aus schierer Kreativität.

Man kann darüber lächeln, dass vor gar nicht allzu langer Zeit wirklich geglaubt wurde, aus der Form eines Pflanzenteils auf dessen Wirksamkeit schließen zu können, aber ich bewundere die intensive Auseinandersetzung mit der Natur, den Willen, sich in die Dinge hineinzuversetzen.

Unsere Umwelt verödet

Wilhelm Lehmann, der in den letzten Jahren wiederentdeckte Nature Writer aus dem schleswigholsteinischen Eckernförde, hat einmal den rätselhaften Satz geschrieben: „Die Natur folgt der Fantasie.“ Heute, da unsere Fantasie vor allem auf Social Media und Netflix gerichtet ist, auf den Konsum künstlicher Produkte, auf die Trennung von Mensch und Natur, ist es kaum überraschend, dass unsere Umwelt verödet – aber auch widerständig wird.

„Make kin“, fordert die amerikanische Autorin Donna Haraway, also dass sich die Menschen mit Nichtmenschen bekannt und gemeinschaftlich machen, so wie es schon einmal war, als Tiere und Pflanzen, aber auch Wind und Wetter, Boden und Sterne uns vertraut waren. Wie wäre es, gleich morgen mit der ersten Spezies anzufangen – einem Strauch, einem Vogel, einem Pilz – und sich mit ihr bekannt zu machen? Wie wäre es, wieder Teil der Welt zu werden, die draußen auf uns wartet?

Ideen und Anregungen: Wie man sich wieder mit der Natur verbindet

Jeden Monat ein anderes Tier beobachten

Zugvögel wie der Kiebitz kehren zum Beispiel jetzt im Frühling zurück. Feuchte Wiesen und kleine Ökosysteme wie Moore, Felder und Wiesen eignen sich am besten, ihn zu entdecken. Der Bund für Umwelt- und Naturschutz hat einen Jahreskalender zusammengestellt: bund.net/bund-tipps/natur-erfahren

Pflanzen und Vögel per App bestimmen

BirdNET zum Beispiel erkennt 3.000 Vogelarten am Gesang, mit Flora Incognita lassen sich vor allem einheimische Pflanzen bestimmen. Mehr als 4.800 Pflanzenarten sind in der Datenbank hinterlegt. Die kostenlosen Apps bitten ihre Nutzenden um die Freigabe des Standortes. Beobachtungen werden anonymisiert registriert und zu Forschungszwecken verwendet.

Sich Zeit nehmen für eigene Beobachtungen

Auf der Wiese, beim Waldspaziergang, aber auch während man auf einen Zug wartet und die Sandbiene betrachtet, die in ihrem Loch verschwindet. Meist reichen schon fünf Minuten konzentrierter Beobachtung, um das dortige Leben hervortreten zu lassen. Fortgeschrittene suchen sich einen Platz in der Natur und besuchen ihn zum Beispiel dreimal in der Woche für 30 bis 45 Minuten. Faszinierend, wie sich die Sinne auf die ursprüngliche Umgebung einstellen.

Naturprojekte durch aktive Mitarbeit unterstützen

Hunderte regionaler Ehrenamtjobs im Natur- und Artenschutz vermittelt die Plattform GoNature – von der Baumpflege auf Streuobstwiesen bis zum AckerCoach für Kinder. gonature.de. Rund 80 gelistete Projekte bietet das Bergwaldprojekt zum Erhalt und zur Pflege des Waldes. Zum Beispiel Pflanzung und Einzelschutz der Weißtanne im Nationalpark Sächsische Schweiz vom 19. – 25. März 2023. bergwaldprojekt.de/einsatzorte

Wildkräuter sammeln

Als Neuling ist es ratsam, mit bekannten Pflanzen wie Löwenzahn, Brennnessel oder Gänseblümchen zu starten. Bücher oder Apps helfen, das Spektrum zu erweitern. Waldmeister, Brunnenkresse oder Bärlauch sind zum Beispiel jetzt im Frühjahr erntereif und perfekt für den Frühlingssalat oder als Topping für Gerichte. tegut.com/marktplatz/beitrag/ wilder-wegesrand.html

Ein Beet für Kinder anlegen

Superleicht! Mehr als eine ausrangierte Obstkiste, eine wasserdurchlässige Folie, Erde und Pflanzen braucht es nicht. Für den Mini-Naschgarten eignen sich Erdbeeren, Limonadenpflanze, Ananassalbei, Cherrytomaten, Zuckererbsen…

Ein Insektenhotel aufstellen

Der Standort sollte sonnig und warm sein, bevorzugt in der Nähe von Sträuchern, Stauden und Kräutern und sich in ein bis zwei Metern Höhe befinden. Perfekt für Wildbienen, Marienkäfer, Schmetterlinge oder Florfliegen – und um Kindern die Zusammenhänge der Natur zu vermitteln

Im Freien schlafen

Wildcampen ist bei uns verboten, aber in geschützten Gebieten gibt es Naturlager- oder Trekkingplätze. Meist verfügen die Waldzeltplätze über eine Komposttoilette und eine Feuerstelle. Wer einen Platz bucht, erhält anschließend die Wegbeschreibung. Eine Übersicht aller Biwak- und Trekkingplätze: trekkingtrails.de/trekkingplaetze/#karte

Livecams – von zu Hause aus die Natur entdecken

Jetzt im März lässt sich die Rückkehr der Weißstorchenpaare in Linum und im Frühjahr das Heranwachsen der Jungstörche beobachten: über berlin.nabu.de. Bayerns ältester Naturschutzverband LBV hat ebenfalls zahlreiche Livecams installiert, um Bartgeier, Turmfalken oder Fledermausfamilien zu beobachten. lbv.de

Von Carsten Kluth

von Online-Redaktion