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Vom Glück der Stille

Frau genießt Sonnenstrahlen
Es geht nicht um absolute Stille, sondern um kontemplative Ruhe. Was gibt es Schöneres, als die Augen zu schließen und dem leisen Rauschen, Rascheln und Zirpen der Natur zu lauschen? | Foto: Stocksy

Als die Welt vorübergehend auf Samtpfoten ging, wurde klar, wie angenehm es ist, wenn nichts Störendes an unser Ohr dringt. Was Wissenschaftler unternehmen, um den Lärm dauerhaft zu reduzieren – und was jeder selbst tun kann.

Noise Cancelling: Accessoire im Homeoffice

Kopfhörer mit diesem Effekt sind seit einigen Jahren ein ziemlicher Hit: „Noise Cancelling“, das ist physikalische Magie und wenig gespenstisch. Es geht so: Ein Mikrofon misst die Außengeräusche, ein Chip produziert die genau gegenläufigen Wellen, die das Geräusch aufheben – das Resultat, könnte man sagen, ist eine gespannte Stille. Entwickelt für Jetpiloten, damit sie den Funkverkehr überhaupt noch hören können, ist es inzwischen ein beliebtes Accessoire im Homeoffice, wenn die Kinder streiten und draußen der Verkehr rauscht.

Lärm mit Gegenlärm bekämpfen

Diese Erfindung ist zu gleichen Teilen genial, paradox und bestürzend – Lärm mit Gegenlärm wie Feuer mit Feuer zu bekämpfen. Sie zeigt jedenfalls, was Menschen sich einfallen lassen (und auf sich nehmen), um zur Ruhe zu kommen. In die Stille, nach der wir offenbar eine tiefe Sehnsucht haben. Nicht völlige Stille, die halten wir gar nicht aus. In einem schalldichten und dunklen Raum werden Menschen in Halluzinationen und psychi­sche Zerrüttung getrieben, das ist ­vielfach erforscht. Uns aller Sinneseindrücke zu berauben, löst wohl ein ele­mentares Gefühl von Desorientierung und Ausgestoßensein aus.

Portrait eines schlafenden Babys

Stille in der deutschen Lyrik

Die ersehnte Stille ist mehr als die Abwesenheit von Geräusch. Die Etymologie (althochdeutsch „stilli“) weist darauf hin, dass Ruhe in einem weiteren Sinn gemeint ist, nicht laut, wenig Bewegung, wie der Stille Ozean an einem windstillen Tag. „Stille“ ist auch ein Schlüsselwort der deutschen Lyrik, ob romantischer oder moderner Art (besonders schön: Rilkes „Wenn es nur einmal so ganz stille wäre …“). Über die Stille an Berg und Meer in Herbst und Winter sind Doktorarbeiten geschrieben worden. „Wellness“ und „Entschleunigung“ sind noch nicht lyrikfähig, obwohl sie in die gleiche Richtung zielen.

Denn immer geht es dabei nicht um absolute Stille, sondern um eine kontemplative Ruhe, die sich in die Natur einbettet. Es darf rascheln, rauschen, zirpen, tirilieren und glucksen, allein der Wind entfaltet vom Säuseln bis zum Sturm eine enorme Klangfülle. Unsere ganze Evolutionsgeschichte hindurch sind wir mit natürlichen Geräuschen aufgewachsen. Bachgeplätscher, Bienensummen, die menschliche Stimme. Bis der Lärm in die Welt eindrang, durch Industrie, Verkehr, allgegenwärtige elektronische Medien.

Wald mit einem Wildbach

Der Kampf gegen den Lärm ist alt. Im Jahr 1910 prophezeite der berühmte Arzt und Bakteriologe Robert Koch: „Eines Tages wird der Mensch den Lärm ebenso unerbittlich bekämpfen müssen wie die Cholera und die Pest.“ Covid-19 konnte er noch nicht kennen, beim Lärm war seine Ahnung richtig. 1910 gab es wenig Autos und keine Düsenjets, aber es zeichnete sich ab, dass die moderne Welt mit Krach einhergeht.

Technik und Stressmanagement

Was der mit den Menschen macht, hat Dr. Omar Hahad, Stressforscher am Zentrum für Kardiologie der Universitätsmedizin Mainz, erforscht. „Wir haben gezeigt, dass Lärm das Vorhofflimmern und damit das Risiko für Schlaganfälle und Infarkte erhöht“, erklärt Hahad. „Und zwar in einem Ausmaß, das direktes Handeln verlangt.“ Lärm macht krank, das entspricht der Intuition und dem Alltagsverstand. Die über Jahre angelegte Studie der Mainzer hat Fluglärm als wichtigsten Faktor ausgemacht: Herz und Kreislauf sind betroffen, zweifellos kommen auch Depressionen und Angststörungen hinzu. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sagt, Lärm in Westeuropa koste pro Jahr 1,6 Millionen „gesunde“ Lebensjahre.

Mit Technik Lärm gegensteuern

Die Technik kann einiges dagegen unternehmen. Gebäude mit nachgerüsteter Schalldämmung, leisere Motoren (elektrische und konventionelle), Straßen mit lärmreduzierendem Asphalt (weniger Rollgeräusche), mehr Lärmschutz: „Das ist alles gut“, sagt Stressforscher Dr. Hahad. „Aber wir müssen an die Quelle: weniger Verkehr.“ Zwar ist Lärm laut WHO nach Luftverschmutzung (dort vor allem Feinstaub) der zweitschädlichste Umweltfaktor, der Handlungsdruck ist aber nicht so massiv wie beim Thema Klima und Luft. Ruhe wird noch lange bekommen, wer sie sich leisten kann, durch die Wohnlage, die Freizeitmöglichkeiten.

Weniger Lärm im Verkehr

Was können wir also tun, außer die nächstgelegene Initiative für ein Tempolimit zu unterstützen (30 statt 50 in der Stadt macht viel aus)? Wir können selbst weniger Krach machen. Für Ausgleich sorgen, mit dem Fahrrad dorthin fahren, wo die Krähen am lautesten sind. Ein Tipp, den auch Dr. Hahad bereithält, hat mit Stressmanagement zu tun: sich nicht in Ärger und Verzweiflung hineinzusteigern. Die Technoparty zwei Häuser weiter (müssen die morgens nicht aufstehen?), der besonders rigorose Rasenmäher (geht’s noch?), das erste Flugzeug um 6.05 Uhr (wer muss überhaupt fliegen, in diesen Zeiten?) – Wut macht die Sache gesundheitlich nicht besser. Es sei denn, wir nutzen sie, um den Rasenmäher zu beschimpfen.

Ansonsten bleiben die Kopfhörer mit „Noise Cancelling“. Man kann das auch mit Vogelgesang oder Wellenrauschen unterlegen.

Von Raimund Witkop

von Online-Redaktion