Die Geschichte der Zahl Null

Null – die magische Zahl

Über kaum eine Ziffer gibt es so viele schlechte Witze wie über die Null. In Wahrheit ist sie jedoch der Schlüssel zu Fortschritt und Wohlstand. Die modernste Zahl der Geschichte könnte sogar die Welt retten – wie James Bond persönlich.

Frau, die mit Fingern Null vor Auge formt
Augenöffnend: Die Null machte in der 10 unser analoges Zifferblatt rund. Und erst mit dem binären Code von 0 und 1 war die Digitalisierung möglich. | Foto: Shutterstock

Über kaum eine Ziffer gibt es so viele schlechte Witze wie über die Null. In Wahrheit ist sie jedoch der Schlüssel zu Fortschritt und Wohlstand. Die modernste Zahl der Geschichte könnte sogar die Welt retten – wie James Bond persönlich.

Sie sieht aus wie ein Osterei, wie ein gesichtsloser Kopf mit Vollglatze, wie das Nichts in schwarzem Trauerrand, eine Schüssel ohne Suppe drin, wie eine Acht, die ihren Gürtel vergessen hat. Sie steht für das Fußballteam, das kein Tor erzielt, den Kaufmann, der kein Geld verdient, für Ebbe auf dem Girokonto.

Wenn wir von einem Menschen wenig halten, dann sagen wir: „So eine Null!“ Eine Null kann nichts, weiß nichts, hat weder Elan noch Esprit. Man möchte null Komma nichts mit ihr zu tun haben. Die Null scheint so überflüssig, dass man sie auf mechanischen Schreibmaschinen aus Deutschland früher gleich ganz weggelassen hat. Man tippte, wenn man die Null meinte, einfach auf die Taste mit dem Buchstaben „O“.

Die Zahl Null in der Geschichte

Doch bei all diesen Schmähungen und Zurücksetzungen übersehen wir: Von allen ganzen Zahlen ist die Null in Wahrheit die modernste. Und zwar mit Abstand. Die alten Griechen zum Beispiel waren exzellente Rechenprofis – den Satz des Pythagoras lernen wir noch heute in der Schule. Der Null jedoch misstrauten sie zutiefst. Sie weigerten sich, die Zahl anzuerkennen. Der Philosoph Aristoteles wollte sie gar für immer aus unserem Denken verbannen. Denn die Null, so glaubte er, störe die wunderbare Ordnung aller anderen Zahlen.

Mit dem Römischen Reich wurde die Sache nicht besser: Die Null kam in seiner Zahlensprache schlicht nicht vor. Wo wir heute mithilfe von Nullen eine 10 schreiben, eine 100, eine 1.000, da benötigten die Zeitgenossen Julius Caesars immer weitere Buchstaben. Ein X für die Zehn, ein C für die Hundert, ein M fürs volle Tausend.

Dieser Streichelzoo voller Buchstaben machte ihnen trotz ihres sonst so hervorragenden Erfindergeists selbst die Grundrechenarten zur komplizierten Angelegenheit. Das wird schnell klar, „wenn wir einmal in römischer Schreibweise versuchen, CLV mit DCI zu multiplizieren“, klagt der britische Publizist Simon Singh in seinem Sachbuchbestseller „Fermats letzter Satz“. Anders gesagt: Wenn die Null fehlt, ist selbst das Malnehmen ein Albtraum! An höhere Mathematik ist ohne sie schlechterdings nicht zu denken.

Einfache Rechnung: Was ist CLV multipliziert mit DCI? Müssten unsere Kinder in der Schule heute noch mit der römischen Schreibweise ohne Null rechnen, kämen sie ganz schnell an ihre Grenzen | Foto: Stocksy

Modernes Vertrauen in die Null

Uns ist die Null dagegen zum Versprechen eines gesünderen Lebens geworden: null Prozent Fett im Quark, null Zucker im Aufstrich, null Alkohol im Bier. Produkte kaufen wir am liebsten mit null Risiko. Beim kleinsten Makel gibt’s Ersatz oder unser Geld zurück.

Die unfassbare Rechenkraft der Null entdeckte man schließlich in Indien. Und zwar erst rund 600 Jahre nach Christi Geburt. Es gab die Ziffern von 1 bis 9 – mit denselben Schriftzeichen übrigens, die wir noch heute verwenden. Und dazu gesellte sich als geheimnisvolle Königin: die 0.

Im arabischen Raum übernahm man das indische System und brachte es bis ins muslimische Spanien. Erst um das Jahr 1.000 herum bekamen die europäischen Christinnen und Christen Wind von der Sache: Damals verließ ein wissbegieriger Mönch aus Frankreich seine Heimat, um die neue Zahlenlehre der „Heiden“ zu studieren. Rechnete er dabei als erster Christ auch mit der Zahl Null? Fest steht: Nach seiner Rückkehr wurde er zu einem der führenden Intellektuellen Europas und schaffte es als Papst Silvester II. gar bis an die Spitze der katholischen Kirche.

So viel Erfolg weckte Argwohn. Klare Sache: Der Mann musste während seines Auslandsstudiums einen Pakt mit dem Teufel geschlossen haben! So wurde Silvester zum Vorbild für Goethes Faust. Das Misstrauen gegenüber der Null blieb.

Ein Rest davon ist wohl heute noch zu spüren. In den USA zum Beispiel springen die Uhren niemals auf null Uhr. Mitternacht heißt zwischen New York und Los Angeles: „12 Uhr vormittags“. Und selbst bei uns schweigt die Turmglocke nicht zur Geisterstunde, sondern vollführt brav ihre zwölf Schläge zur Begrüßung des neuen Kalendertages.

Uhr auf buntem Blumen-Hintergrund
Foto: Stocksy

Wer hat die Null erfunden

Nach Papst Silvester II. dauerte es übrigens noch ganze 400 Jahre, bis die Null sich in Deutschland wirklich durchsetzte. Ihr Name stammt vom lateinischen Wort „nullus“, das so viel wie „keiner“ bedeutet. Auf Arabisch nannte man die Null „sifr“. Das Wort ist als „Ziffer“ in der deutschen Sprache heimisch geworden. Erst der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz bändigte neben der Null auch ihre geheimnisvolle Schwester: die Unendlichkeit.

Hand in Hand mit der Null-Revolution der Mathematik kam auch der technische Fortschritt. Der Dampfmaschine folgten Verbrennungsmotoren – und irgendwann: Raketen, die zum Mars fliegen. Und natürlich: die modernen Computer.

Programme, Fotos, Hollywoodfilme, Mozarts Symphonien, E-Mails – jede Information auf unserer Festplatte zerfällt in endlose Abfolgen aus lediglich zwei Zeichen: 1 und 0. Ohne die Null kein Laptop, kein Handy, kein Internet. Nullen regieren unseren Planeten: ganz sicher in der digitalen Welt. Doch reisen wir noch einmal zurück in der Zeit: Seit 1750 gaben die Briten ihren Seefahrern tüchtige Schiffsuhren mit auf den Weg. Damit konnte man erstmals präzise errechnen, auf welchem Längengrad man segelte. Den Nullmeridian? Ließ man natürlich mitten durchs Observatorium von Greenwich in London laufen. Dort lag für die Menschen in Großbritannien der Nabel der Welt, das Zentrum der Macht in ihrem Reich, über dem die Sonne niemals unterging.

Silberfarbene Figur auf gepflastertem Weg
Der Nullmeridian als Taktgeber: Bis 1893 mussten Reisende innerhalb Deutschlands ihre Uhr oft neu stellen, denn jeder Ort hatte seine eigene Zeit. Das änderte sich, als Kaiser Wilhelm II. das Land endlich den internationalen Zeitzonen mit dem Greenwich-Meridian als Nullmeridian anschloss. | Foto: Gettyimages

Wer heute mit Raketenpower Richtung Sonne fliegt, erreicht irgendwann jenen Zustand, der im Englischen „zero gravity“ heißt – die Schwerelosigkeit. Man schwebt dann mit der Kraft der magischen Zahl wie Major Tom völlig losgelöst von der Erde.

Die Null, so scheint es, ist buchstäblich: nicht von dieser Welt. Selbst in der Wirtschaft träumt das obere Management von einer „Null-Fehler-Strategie“, angelehnt an die japanische Kaizen-Methode. Also von einer Fabrik, in der niemals etwas schiefgeht, wo Mensch und Maschine jedes Bauteil zu völliger Makellosigkeit feilen und schmirgeln. Allein: So eine Fabrik gibt es natürlich nicht. Nicht einmal in Deutschland. Das in der Null enthaltene Versprechen von Perfektion – wirklich eingelöst wird es vermutlich nur im Himmel.

Von wegen „null Bock!“

Was es dagegen schon auf Erden gibt, ist eine Blutgruppe mit dem seltsamen Namen „Rh-Null“, die Fachleute auch als „Goldenes Blut“ bezeichnen. Denn seine roten Blutkörperchen kennzeichnet eine fast überirdische Reinheit: Sämtliche 55 Antigene des Rhesussystems sucht man auf ihnen vergeblich.

Medizinisch nutzen kann man diesen Umstand leider nicht, denn Rh-Null ist die seltenste Blutgruppe der Welt. Es fließt nach bisherigem Stand der Forschung durch die Adern von lediglich 43 Personen auf dem ganzen Erdenrund. Über den Charakter dieser Menschen ist bisher wenig bekannt. Sind sie besonders motiviert? Oder haben sie im Gegenteil keine Lust auf gar nix?

„Null Bock“ sagte man zu dieser Haltung in den 1980er-Jahren – und meinte damit vor allem die Lebenseinstellung junger Menschen in Westdeutschland. Diesen war der Regen zu sauer, zu viele Atomraketen standen ihrer Meinung nach auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Wozu sich anstrengen, so das Motto, wenn es scheinbar eh null Aussicht auf Zukunft gab? Doch der erwartete Weltuntergang blieb aus.

Ausgerechnet in den Nullerjahren vermeldete die Forschung schließlich: „Die Null-Bock-Stimmung früherer Generationen ist passé!“ Laut der Shell-Jugendstudie sagen heute mehr als 80 Prozent der jungen Leute, dass ihnen Respekt vor Gesetz und Ordnung ebenso wichtig ist wie eine fleißige und ehrgeizige Haltung im Alltag. Und das, obwohl die weltweiten Umweltprobleme inzwischen sogar bedrohlicher erscheinen als noch vor 40 Jahren.

Eine Antwort auf die Klimakrise geben die Vereinten Nationen. Ihr Schlagwort lautet: „net zero“. Diese „Netto- Null“ bedeutet: Wir Menschen wollen nur noch so viel CO2 in die Luft pusten, wie Atmosphäre, Wälder und Ozeane aufnehmen und weiterverwerten können. Aus der Generation „Null Bock“ wird die Generation „Null Kohlenstoff“. Das Prinzip der Null könnte – wie James Bond als Geheimagent 007 – am Ende vielleicht doch noch die Welt retten. Der magischen Zahl ist wirklich alles zuzutrauen.

Paar kocht in Küche
Verzicht als Gewinn: Seit vielen Jahren wächst der Markt an 0-%-Produkten für unsere Ernährung. Ob 0 % Gluten, 0 % Zucker oder 0 % Alkohol: Stets geht es darum, radikal auf das zu verzichten, was ein Lebensmittel vielleicht lecker macht, aber als ungesund gilt. | Foto: Gettyimages

Spannende Fragen um die Geschichte der Null 

Seit wann gibt es einen „Null-Euro-Schein“? Der erste Null-Euro-Schein erschien am 30. März 2016. Er zeigt eine Giraffe, einen Tiger und einen Koala – allesamt Bewohner des Duisburger Zoos. Der Schein kostete damals drei Euro. Einkaufen und bezahlen kann man mit solchen Souvenirscheinen natürlich nicht.

Bedeutet „Nulpe“ eigentlich dasselbe wie Null? Das Schimpfwort steht für einen „unbedeutenden Menschen“ oder einen „Nichtskönner“. Das „Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache“ hält es zumindest für möglich, dass es sich bei Nulpe um eine „Weiterbildung“ des Wortes Null handelt. Das berühmteste Wortspiel dazu stammt vom legendären niederländischen Showmaster Rudi Carrell. Er sang 1970 den selbstironischen Song „Nulpen aus Amsterdam“.

Was versteht man unter einer „Nullhypothese“? Die Nullhypothese ist ein Begriff aus der Statistik. Zum Beispiel könnte man sich fragen: Sind blonde Menschen in Schweden häufiger vertreten als in Dänemark? Die Nullhypothese lautet: Nein, an dieser These ist nichts dran! Dann fängt man an zu zählen und zu rechnen, um diese Nullhypothese zu widerlegen. In diesem Fall übrigens mit Erfolg: In Schweden sind 78 Prozent der Menschen blond. In Dänemark nur 68 Prozent. So läuft Wissenschaft!

Wann fand die „Stunde null“ statt? Eigentlich meint man damit, dass eine alte Ordnung zu Ende geht und eine neue Zeit beginnt. Speziell in Deutschland bezeichnet die „Stunde null“ die Wochen direkt nach Ende des II. Weltkriegs ab dem 8. Mai 1945.

Ist eine „Nullnummer“ stets ein Misserfolg?
Nein, denn eigentlich bedeutet der Begriff Folgendes: Wenn ein Verlag eine neue Zeitschrift auf den Markt bringt, erstellt man häufig eine Ausgabe als Prototypen, die nirgendwo gekauft werden kann – einfach, um ein besseres Gefühl für das neue Produkt zu bekommen. Auf dem Titel steht dann oft „Nr. 0“. Genau daher kommt der Name „Nullnummer“.

Was versteht man unter einem „Null-Preis-Effekt“?
Ein berühmter Fall dieses Effekts ereignete sich 2013 in Dubai. Ein Eishändler hatte seiner Kundschaft für zwei Stunden ein Gratis-Eis versprochen. Es kam zu monströsen Warteschlangen. Persönliche Frage: Würden Sie 45 Minuten warten, um 1,50 Euro zu sparen? Vermutlich nicht! Fachleute glauben deshalb: Sobald es etwas umsonst gibt, funktioniert der menschliche Verstand nur noch halb so gut.

Verstehen Tiere, was „null“ bedeutet?
Ja. Laut einer im „Journal of Neuroscience“ veröffentlichten Studie verstehen Affen das sehr gut. Sogar Rabenkrähen haben einen Begriff von der Null. Interessant: Man hat entdeckt, wo die Null im Gehirn dieser Tiere zu Hause ist, nämlich direkt neben der Eins. Das heißt: Tiere können nicht nur zählen, sie sehen die Null offenbar auch als eine eigene Zahl.

Was ist ein „Nullspiel“?
Eine Spielvariante beim Skat, bei der einige der sonstigen Regeln auf den Kopf gestellt werden – ungefähr so, als würde man beim Fußball versuchen, möglichst viele Eigentore zu schießen. Verrückt! Skat wird nirgends so häufig gespielt wie in Deutschland. Es gehört seit 2016 zum immateriellen Kulturerbe der UNESCO.

Von Jochen Metzger