Sehnsucht nach Traditionen und Naturnähe

Die Sehnsucht nach Tradition: Am Rande neu entdeckt

Zu alltäglich, zu unperfekt, zu umständlich: Weil der Glanz des Neuen lockte, haben wir vieles Althergebrachte ins Abseits gedrängt. Wir wollten anders essen, wohnen, leben. Jetzt feiern immer mehr Leute fast Vergessenes als Schatz. Was steckt dahinter?

Kleine Gemeinde am Land
Foto: Adobe Stock

Vergessenes neu wertschätzen

Kirschsuppe mit Klüten – das war eines der Lieblingsgerichte meiner Kindheit. Eine lauwarme Suppe, in der Sauerkirschen und dicke süße Mehlklumpen schwammen. Die Kirschen stammten aus dem Garten meiner Großmutter, sie hat die Suppe Hunderte von Malen zubereitet. Sie kochte viel und gern, ich war in den Ferien oft bei ihr in Bad Pyrmont. Wenn ich heute die Suppe dieser energischen und humorvollen Frau nach ihrem Rezept nachkoche, bin ich ihr nahe. Die Kirschsuppe ist für mich so etwas wie Soulfood: Sie hat eine Seele, weil sie eng verbunden ist mit einem geliebten Menschen.
Lange Zeit war ich fasziniert von exotischen Gerichten, marokkanisch, kreolisch, pakistanisch – das hatte den Glanz des Neuen, der großen, weiten Welt. Suppen fand ich eher langweilig, zu wenig glamourös, zu normal. Jetzt merke ich, dass ich nicht die Einzige bin, die das fast Vergessene neu wertschätzen kann.

Weg vom Einheitsbrei hin zum Unterschätzten

Die Sehnsucht nach Traditionen und Naturnähe wächst. Schriftstellerinnen wie Dörte Hansen („Mittagsstunde“) oder Juli Zeh („Unterleuten“) bedienen sie und landen mit ihren Romanen Bestseller. Klassische Städter, die früher über Provinzler lästerten, entdecken vom Aussterben bedrohte Dörfer für sich und finden das Landleben plötzlich attraktiv. Und sogar „primitive“ Baumaterialien wie Stroh und Lehm kommen wieder zum Einsatz. Nicht wenige Landwirte entdecken alte Obst- und Gemüsesorten neu, halten gezielt vom Aussterben bedrohte Tierrassen. Der gute alte Eintopf, oft als Armeleuteessen geschmäht, erlebt ein Revival und wird von Spitzenköchen verfeinert – Steckrübeneintopf de luxe.
Weg vom Einheitsbrei, vom leicht Konsumierbaren hin zum Unterschätzten, das wir uns erst erschließen müssen. Ein Mainstream-Apfel oder ein konventionell gehaltenes Huhn kann in Sachen Geschmackserlebnis eben kaum mithalten mit dem, was alte Sorten und Rassen zu bieten haben, die regional und nur in kleinen Mengen kultiviert werden. Hinzu kommt: Viele der an den Rand gedrängten Kulturpflanzen haben eine höhere Nährstoffdichte als konventionell erzeugte Produkte.

Vor dem Hintergrund des Klimawandels sind die alten Sorten ebenfalls eine kluge Wahl. „Wenn unser Klima immer mehr aufheizt, muss man das anbauen, was am besten an die höheren Temperaturen angepasst ist. Die Genbanken bieten ein großes Potenzial, da schlummern etliche alte Sorten“, sagt Gerhard Schneider-Rose von der Organisation Slow Food. „Viele davon sind nicht so schadanfällig, verbrauchen weniger Nährstoffe und kommen weitgehend ohne Pestizide und künstliche Bewässerung aus. Unter Nachhaltigkeits-Gesichtspunkten sind sie die Pflanzen der Zukunft.“

Frau beim Stricken
Stich für Stich ein kleines Kunstwerk schaffen: Sticken ist aus Omas Wohnzimmer in die Welt der Trendsetter umgezogen – und treibt schöne Blu?ten | Foto: Stocksy

Je seltener, desto spannender

Wer Nahrungsmittel kultiviert, die bisher nur eine Randexistenz führten, stärkt außerdem die Vielfalt. In den letzten Jahrzehnten ist die Diversität, also die Vielfalt an Sorten und Rassen, stark eingebrochen. 75 Prozent der Nutzpflanzensorten sind seit 1900 verloren gegangen. Wer einen Apfel kaufen will, findet beim Discounter rund sechs verschiedene Sorten, dabei gibt es in Deutschland etwa 2000. Oder die Nutztiere: Weltweit sind in den vergangenen 100 Jahren 1000 der anerkannten 6500 Nutztierrassen ausgestorben. Weitere 2000 sind bedroht, Woche für Woche verschwinden im Schnitt zwei Rassen.

Auf dem Hof Bredland in Schleswig-Holstein, idyllisch gelegen inmitten vieler Seen, halten Inken Mohr und Hardy Marienfeld vom Aussterben bedrohte Rassen. Dazu gehört die Skudde, ein Heideschaf, das ursprünglich aus Ostpreußen und dem Baltikum stammt und auf den mageren Heidewiesen früher in großer Zahl zu finden war. „Anders als normale Lämmer sind die Skudden erst nach etwa eineinhalb Jahren schlachtreif“, sagt Landwirt Marienfeld, „vorher haben sie nicht genug Fleisch angesetzt. Der Geschmack erinnert an Wild – eine ganz besondere Spezialität.“

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Für die auf Effizienz ausgerichtete industrialisierte Landwirtschaft ist die Skudde dagegen ein Paria, ein Außenseiter, der kaum Ertrag abwirft. So wie viele der alten Sorten auch. Gerade weil diese Nischenprodukte oft eigenwilliger sind als die herkömmlichen, müssen wir uns mit ihren Besonderheiten und Bedürfnissen auseinandersetzen. Die Natur als Gegenüber, als Partner, der uns vielleicht sogar etwas beibringen kann: Geduld, Aufmerksamkeit, Einfühlungsvermögen.

Alte Sorten sind wieder gefragt

Der Hof von Hardy Marienfeld ist als Arche-Hof gelistet. Die „Arche des Geschmacks“, ein Projekt der Slow Food Stiftung für Biodiversität, schützt weltweit regionale Nutztierarten und Kulturpflanzen, aber auch traditionelle Zubereitungsarten vor dem Vergessen. Das Motto: „Essen, was man retten will!“ Die Arche-Kommission, geleitet von Gerhard Schneider-Rose, entscheidet, welche „Passagiere“ aufgenommen werden.

Die Skudde von Hardy Marienfeld gehört zu den Arche-Passagieren, ebenso die Teltower Rübchen, das berühmte Leibgericht von Johann Wolfgang von Goethe. Gegenwärtig reisen 80 Passagiere aus Deutschland in der Arche des Geschmacks, weltweit sind es mehr als 5000. Woran liegt es, dass der Retrotrend immer mehr Menschen anspricht, die gezielt nach den alten Sorten fragen und bereit sind, dafür mehr zu bezahlen als für herkömmliche?

Die Therapeutin Sandra Knümann, die Psychotherapie und Coaching in der Natur anbietet,meint: „Wir vermissen das Ursprüngliche, weil unsere Welt so künstlich geworden ist. Das fängt bei den Lebensmitteln an, in denen häufig Zusatzstoffe wie Geschmacksverstärker und Farbstoffe sind. Eine weitere Ursache sehe ich in der Digitalisierung. Wir sind Reizen ausgesetzt, die alle virtuell sind. Es gibt nichts zum Anfassen, das Haptische, das Sinnliche fehlt. Da ist es nicht verwunderlich, wenn Menschen sich nach der Natur und den alten Bräuchen, die sich um sie herum ranken, sehnen. Wir Menschen sind ja schließlich auch Natur.“

Wir vermissen das Ursprüngliche, weil unsere Welt so künstlich geworden ist.

Die Zeit verlangsamen

In ihrer Praxis hat Sandra Knümann zunehmend mit Patienten zu tun, die ein Burn-out erlitten haben. Sie quälen sich mit dem Gefühl, nicht effizient genug zu sein, nicht hinreichend zu funktionieren. „Das Tempo unserer Gesellschaft ist für viele zu schnell“, sagt die Psychologin. „Die Wiederentdeckung von Traditionen verbindet uns mit einem ganz anderen Zeitgefühl. Wer eine alte Apfelsorte anbaut, die aufwendiger ist als eine konventionelle, entzieht sich dem Effizienzdruck. Warum soll Wachstum nicht langsam sein?“ Gut Ding will Weile haben. Sicher ist es kein Zufall, dass auch das einst als spleenig angesehene Hobby der Ornithologie heute wieder ein Trend ist, nur dass es jetzt „Birding“ heißt. Wer Vögel beobachten will, muss warten können.

Verwurzelung mit der Heimat

Verwurzelung – auch das ist etwas, das die alten Schätze vermitteln. Verwurzelung mit der Heimat, mit den lokalen Gepflogenheiten. Es gibt eine hübsche Geschichte, die sich um den Birkenfelder Rotapfel rankt, der wegen seiner intensiven Farbe gern als Weihnachtsdekoration verwendet wird. Die Apfelsorte aus Rheinland-Pfalz galt schon als  verloren, bis ein Aufruf in der Lokalzeitung sie gerettet hat: Über ihn wurden einige alte Bäume gefunden, veredelt und damit vorerst erhalten. „Die regionale Bindung schafft ein Gefühl von Zugehörigkeit und Vertrautheit“, weiß Sandra Knümann. „Gerade seit der unsicheren Coronazeit ist der Wunsch nach Stabilität besonders groß.“

Alte Frau kocht
Stundenlang gerührt, nach eigenem Rezept gekocht: Als Gegenbewegung zum Fast Food hat Slow Food Zukunft | Foto: Shutterstock

Altes wieder aufspüren macht Spaß

Wer nach alten Sorten fahndet oder ein altes Handwerk wie das Weben wiederbelebt, lässt sich von seiner Entdeckerfreude leiten. Es macht Spaß, etwas Neues beziehungsweise Altes aufzuspüren und zu zelebrieren. Konsumenten mit hohem ökologischen Anspruch sind da besonders aktiv, und so könnte etwa die nussig schmeckende Goldparmäne irgendwann zum Hipster-Apfel werden. Gerhard Schneider-Rose von Slow Food setzt noch einen drauf: „Essen ist politisch.
Einkaufsverhalten wird zunehmend als Meinungsäußerung, als Engagement in der Welt betrachtet. Zum einen ist das die vegetarisch-vegane Ausrichtung, zum anderen die Rückbesinnung auf die alten Sorten.“

Noch heute schwärmt der Slow-Food-Experte von einer Verkostung, bei der zwei identisch zubereitete Schweinebraten verglichen wurden. Der eine stammte von einem konventionell aufgezogenen Landschwein, der andere von einer alten Rasse, dem Bunten Bentheimer Schwein. „Der Geschmacksunterschied war riesig“, erinnert sich Schneider-Rose. „Beim Bentheimer Schwein war vor allem das Fett lecker.“ So bekommt das, was viele von uns gern wegschneiden, unversehens ein neues Prestige.

Mauerblümchen? Randerscheinung? Von wegen! Das ist jetzt wieder angesagt:

  • Brot mit Sauerteig backen
  • Dekorieren mit Trockenblumen
  • Wohnen im Mehrgenerationenhaus
  • Sticken und häkeln wie Oma
  • Auf Flohmärkten alte Kochbücher ausgraben
  • Gesellschaftsspiele aus der Kindheit wiederbeleben
  • Buchweizengrütze kochen
  • Pflaumen oder Rote Bete einwecken
  • Unverpackte Lebensmittel einkaufen

Arten und Sorten – was genau ist der Unterschied?

Die Begriffe „Arten“ und „Sorten“ von Pflanzen werden im Sprachgebrauch oft verwechselt, dabei gibt es eine klare Unterscheidung. Arten sind von Natur aus vorhanden. Sorten haben mit der Züchtung zu tun und werden aus den Arten gewonnen. Sorten haben unterschiedliche Eigenschaften, gehören aber zu derselben Art.

Während Pflanzenarten also natürlich vorkommen, sind die Sorten fast immer durch den Menschen geschaffen. Weizen oder Gerste etwa sind Arten, von denen es jeweils zahlreiche Sorten gibt, etwa den Winterweizen Campesino. Im Tierreich sind zum Beispiel Haushunde eine Art, und auch hier gibt es – entsprechend den Sorten bei Pflanzen – große Unterschiede, nämlich in den Rassen (Boxer, Langhaardackel etc.).

Ein Korb selbst gepflu?ckter Äpfel
Ein Korb selbst gepflückter Äpfel oder ein einfaches Essen wie Kirschsuppe mit Klu?ten: So etwas stillt unsere Sehnsucht nach fru?her | Foto: Stocksy

Die schönsten Namen alter Apfelsorten

  1. Ananasrenette
  2. Gloria Mundi
  3. Königlicher Kurzstiel
  4. Minister von Hammerstein
  5. Zuccalmaglio
  6. Geflammter Kardinal
  7. Agathe von Klanxbüll
  8. Berliner Schafsnase
  9. Purpurroter Cousinot

Unser Liebhaber-Buchtipp: „Die alten Obstsorten“

Mit ihrer glänzenden gesprenkelten Haut sieht sie aus wie eine Bachforelle: die Forellenbirne. Sie stammt aus Sachsen, vom Anfang des 19. Jahrhunderts, ihr Aroma wird als süß und melonenartig beschrieben. Die Forellenbirne ist nur eine von mehr als 50 heimischen Obstsorten, die in dem Buch „Die alten Obstsorten“ von Sofia Blind porträtiert sind. Jede Sorte ist ein kleiner Star, hat eine Persönlichkeit und eine ganz eigene Geschichte.

Wir erfahren, dass viele Obstsorten aus dem Osten entlang der alten Seidenstraße nach Europa gelangt sind: Reisende nahmen das Obst als Wegzehrung mit, ließen das Kerngehäuse am Wegesrand liegen und säten so neue Bäume aus. Das Buch macht Spaß zu lesen und anzuschauen – mit den historischen Abbildungen der Früchte ist es überaus bibliophil. Dazu gibt es Rezepte regionaler Spezialitäten und sogar Anbautipps. (192 Seiten, Dumont Verlag)

Von Franziska Wolffheim