Warum glauben wir nur das, was wir sehen? Wo es doch Düfte sind, die uns die schönsten Momente unseres Lebens bescheren: Liebe und Erinnerungen, Frühlingserwachen – und köstliches Essen.

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Irgendwann geht es los. An den kahlen Ästen stehen die ersten Knospen, noch braun und unscheinbar. Dann folgt das Grün der jungen Blätter – und zack: Der Winter ist vorbei. Seltsam. Irgendwie haben wir vorher schon gewusst, dass es bald so weit sein wird. „Süße, wohlbekannte Düfte streifen ahnungsvoll das Land“, schrieb der Dichter Eduard Mörike über diese Tage des Übergangs. Ja! Den Frühling kann man riechen, lange bevor er da ist. Die Vorfreude, dieses Kribbeln im Bauch, das uns Jahr für Jahr heimsucht – es entsteht in unserer Nase.
Die acht Duftfamilien
Parfümeure, Köche und Weintester – sie alle entwickeln ihre eigene Sprache und ganze Systeme, um Düfte zu klassifizieren. Die sind alle etwas verschieden, in der Regel werden aber acht große Duftfamilien unterschieden:
- blumig – wie Rose, Veilchen oder Orangenblüte
- fruchtig – wie Zitrusfrüchte, Apfel, Erdbeere
- grün – wie Gurken, Heu, Gras
- würzig – wie Zimt, Anis, Vanillin, Nelken
- holzig – wie Sandelholz, Zedernholz, Patschuli
- harzig – wie Weihrauch, Kiefernholz
- animalisch – wie Ambra, Moschus, Ammoniak
- erdig – wie Erde, Torf, Meer
Von all unseren Sinnen wird keiner so sehr unterschätzt wie das Riechen. Wir vertrauen eher auf das, was wir sehen können, als auf Informationen aus diesem Land des Unsichtbaren. Dabei ist die Wirkung von Düften und das Riechen der vermutlich älteste Sinn, Lebewesen auf dieser Erde konnten bereits Düfte wahrnehmen, ehe sie sehen und hören oder gar denken und sprechen lernten. Der Mensch ist ein Tier, wenn er schnuppert: ganz Gefühl, Instinkt und Emotion. Gerüche verarbeitet das Gehirn deshalb just an der Stelle, wo auch Liebe entsteht und Hass, Glück und Trauer, Freude und Wut. Oder auch mal die blanke Panik: Ein Feuer wittern wir manchmal noch aus 100 Kilometern Entfernung. Wir werden hellwach, sobald Rauch in unsere Nase steigt. Mag sein, dass wir nachts die Augen schließen – doch die Nase schläft nie.
Das Kissen, das nach Liebe riecht, macht gute Träume.
Wir können Billionen von Gerüchen unterscheiden
Ein Apfel duftet nach mehr als 300 einzelnen Substanzen
Und wie köstlich kann das sein, was die Rezeptoren da wahrnehmen! Kein Zufall, dass es ein Apfel war, dem Adam und Eva nicht widerstehen konnten. Um ihn zu kosten, setzten sie sogar ein Leben im Paradies aufs Spiel. Heute weiß man, dass der verführerische Duft eines Apfels aus mehr als 300 einzelnen Substanzen besteht. Experten haben sich die Mühe gemacht, die einzelnen Aromen getrennt voneinander zu erschnüffeln und in Vergleichen zu beschreiben. Sie fanden den Geruch von geröstetem Kaffee, frisch geschnittenem Gras, von Zitronensaft und blühenden Rosen, von Orangenschalen und Mandelöl.
Düfte aus der Natur
Düfte lösen Erinnerungen aus
Manche Kombinationen erleben wir so selten, dass sie sich für immer im Gedächtnis verankern. Wie beim französischen Schriftsteller Marcel Proust. Sein Romanheld stippt ein süßes Gebäckstück, die „Madeleine“, in eine Tasse mit dampfendem Lindenblütentee – und das Aroma trägt ihn mit unwiderstehlicher Wucht zurück in seine Kindheit.
Duftsignale gehen im Gehirn direkt dorthin, wo unser Gedächtnis wohnt.
Auch diesen Effekt kann man heute erklären: Duftsignale gehen im Gehirn direkt dorthin, wo unser Gedächtnis wohnt. Deshalb lösen sie die lebendigsten und emotionalsten Erinnerungen aus. Unser Herz schlägt auf einmal schneller, wir lächeln oder weinen, ohne es zu wollen. Widerstand? Zwecklos! Deshalb liebt jeder den Duft von Vanille: Ihr Aroma kommt in menschlicher Muttermilch vor und ist daher in einem Winkel unseres Hirns mit Geborgenheit und Sicherheit verknüpft. Wo es nach Vanille duftet, da spüren wir wieder für ein paar Sekunden, wie schön es ist, auf der Welt zu sein.
Gerüchte sind schwer zu beschreiben
Düfte schenken uns die besten Momente unseres Lebens. Dennoch fehlen uns fast immer die Worte, um sie zu beschreiben. Man kann den Freunden zu Hause tausend Bilder aus dem Urlaub zeigen. Aber den Geruch auf dem Wochenmarkt erklären? Den Geschmack fremder Kräuter vermitteln? Keine Chance! Um herauszufinden, wie etwas schmeckt und ob es wirklich lecker ist, gibt es für uns nur einen Weg: ausprobieren. Erst danach können wir unser Sprachzentrum nach passend scheinenden Adjektiven und Vergleichen durchforsten.
Mit ein wenig Training könnten auch wir uns wieder zu Supernasen entwickeln.
Erst seit Kurzem weiß man, dass die Sprachlosigkeit der Düfte nicht angeboren ist. Andere Völker – etwa in den Urwäldern Südostasiens – haben für Gerüche ebenso viele Worte wie wir für Farben. Fachleute wie der Duftexperte Robert Müller-Grünow sind deshalb überzeugt: Mit ein wenig Training könnten auch wir uns wieder zu Supernasen entwickeln. Vielleicht schon beim nächsten Einkauf im Supermarkt. Wonach riechen frisches Basilikum und Bärlauch? Wonach duftet Pastinake? Rettich? Sellerie? Im Gewürzregal sind Aromen zu finden, die wir noch nie gekostet haben. Wie schmeckt Asant oder Bockshornklee? Mit der Testtüte kommen wir aus dem Markt nach draußen – die Sonne scheint. Und alles riecht nach Frühling.
Einen Menschen riechen können
Je näher wir mit einem Menschen verwandt sind, desto ähnlicher ist unser Körperduft. Den Geruch eineiiger Zwillinge kann man kaum auseinanderhalten. Wenn Mann und Frau einander gerne riechen, liegt das angeblich daran, dass ihre Gene gut zueinanderpassen: Der Körper erschnüffelt sozusagen, dass die beiden eine gute Chance haben, Kinder mit gesundem Immunsystem zu bekommen.
Kann man Chefkoch sein, ohne zu schmecken und zu riechen? Als der US-Sternekoch Grant Achatz an einem Tumor der Zunge erkrankt, helfen ihm nur noch Chemotherapie und starke Medikamente. Die Nebenwirkung: Er verliert zeitweilig seinen Geruchssinn. Nase, Mund, alles wie tot. Trotzdem erfindet er für sein Restaurant „Alinea“ in Chicago weiterhin neue Gerichte. Achatz kreiert sie komplett aus seiner Fantasie – wie Beethoven, der auch taub noch große Sinfonien komponierte – und vermittelt sie seinen schmeckenden Mitarbeitern mit Hilfe von Skizzen. Glück für Achatz: Sein Geruchsempfinden erholt sich schrittweise. „Für mich war dies eine Offenbarung, der Beginn eines neuen kulinarischen Lebens!“, sagt er.
Kindernasen lügen nicht
Beim Essen kennen Kinder keine Gnade: Sie lieben Süßes – und verabscheuen meist bittere und saure Speisen. Ganz anders beim Riechen: Vieles, vor dessen Geruch wir uns als Erwachsene ekeln, stört Kinder überhaupt nicht. Der Grund: Geruchsvorlieben sind erlernt und kulturell sehr unterschiedlich. Erst mit etwa acht Jahren haben Kinder die entscheidenden Vorlieben und Abneigungen ihrer Kultur übernommen, danach prägen sich individuelle heraus.
Bücher zum Thema Duft
- „Basar der Düfte: Eine Reise durch die Welt der Gewürze“, Caz Hildebrand, 224 Seiten, Knesebeck Verlag
- „Himmlische Düfte: Das große Buch der Aromatherapie“, Susanne Fischer-Rizzi, 166 Seiten, AT Verlag
- „A Scented World – die Welt der Düfte. Das Buch über Parfüms der Welt“, Claire Bingham, 224 Seiten, TeNeues Media
- „Die geheime Macht der Düfte: Warum wir unserem Geruchssinn mehr vertrauen sollten“, Robert Müller-Grünow, 304 Seiten, Edel Books Verlag
Von Jochen Metzger