Ist Händeschütteln noch okay?

In vorpandemischen Zeiten war klar, wie wir uns begrüßen. Seitdem herrscht muntere Vielfalt beim Hallo-Sagen. Unser Kolumnist macht sich stark fürs alte Ritual.

Ein Portraitfoto von Jochen Metzger, der dieses Essay geschrieben hat.
Foto: Dennis Williamson

Jochen Metzger

lebt in Hamburg. Hände schüttelt er dort als Wissenschaftsjournalist, Buchautor, Coach und erfolgloser Tischtennisspieler.

Neulich geschah etwas Seltsames. Ich unterhielt mich auf einer Feier, ein Pärchen trat hinzu. „Hallo, ich bin der Jürgen“, sagte der Mann und reichte mir die Hand. Ich ergriff sie, ohne nachzudenken. „Barbara“, sagte darauf seine Partnerin. Ihre Hand war kälter und schlanker als seine. Irgendetwas an den beiden verblüffte mich. Aber was? Ich brauchte ein paar Sekunden für die Antwort: Die Verblüffung kam aus meiner Hand. „Hey“, sagte die Hand. „Dieses Gefühl kenn ich von früher!“ Sie war seit Monaten nicht mehr geschüttelt worden.

„Klar, wegen der Pandemie“, sagt Kai. Er ist Professor und hat für alles eine Erklärung. „Da haben wir über Monate Social Distancing gelernt und unsere Gewohnheiten seither nicht wieder umgestellt.“ Bestimmt hat er recht. Andererseits: Das mit der Distanz stimmt nur so halb. Ich habe noch nie so oft andere Menschen umarmt, wie ich das heute tue. Die Umarmung ist der neue Händedruck. Zumindest für mich. Den Rest übernehmen andere Formen der Begrüßung: In meinem Sportverein geht das meist über „High five“ oder noch coolere Varianten wie den „Bro-Hug“. Und letzte Woche hätte mir ein übermütiger 15-Jähriger beim „Fistbump“, also dem Faustgruß, beinahe die Finger gebrochen. Die ganz Vorsichtigen geben mir den Ellenbogen, Freunde aus nobleren Stadtvierteln überfordern mich dagegen mit hingehauchten Küsschen auf meine beiden unrasierten Wangen. Andernorts genügt eine Kombi aus Blickkontakt und respektvollem Zunicken. So viel Diversität beim Hallo-Sagen! Gibt es in Berlin etwa eine Bundesgleichstellungsbeauftragte für Begrüßungsformen? Falls ja, hat sie einen top Job gemacht!

Früher war alles leichter. Wie bei den Streichhölzern. Bis zum Januar 1983 gab’s da in Westdeutschland ein Monopol, „Welthölzer“ stand auf der blauen Packung. Damals, glaube ich, war der Händedruck die Monopol-Streichholzschachtel unter den Begrüßungen. Wir hatten einfach nichts anderes. Die Erwachsenen besiegelten damit ihre Geschäfte, wir Kinder dagegen mussten all die verborgenen Regeln hinter einem „anständigen“ Händedruck erst mühsam lernen. Man lässt die Hand des anderen entspannt in der eigenen einrasten und drückt dann merklich zu, nicht zu schwach, aber auch nicht zu stark. Man schaut dem anderen dabei in die Augen. Das war kein einfaches Ritual, aber man kriegte es hin. Wir ahnten nicht, dass dieser Gruß aus historischer Sicht ein Zeichen des Friedens war: Wer einem die rechte Hand entgegenstreckt, hält darin keinen Dolch, kein Messer und kein Schwert. Man macht sich wehrlos damit, verletzbar und kommt in bester Absicht. Eigentlich eine tolle Geste.

„Aber die Leute tragen heute ja nur noch selten Schwerter am Gürtel“, murrten irgendwann die klugen Leute aus der Wissenschaft. Lange vor der Pandemie hatten sie in Studien ermittelt, dass ein Fistbump zehnmal weniger Bakterien überträgt als ein Händedruck. „Weg mit dem Händeschütteln!“, forderten sie. Doch ach, sie hatten ihre Rechnung ohne die praktizierenden Ärzte gemacht. Die wollten sich ungern begrüßen lassen wie Kleinkriminelle in finsteren Ecken von Detroit oder Chicago. Und sie wussten genau: Der Händedruck schafft jenes Vertrauen und jene Verbindung, ohne die ein Praxisbesuch nur noch die Hälfte wert ist.

Meine Bekannte Heike hat zu all dem eine ganze eigene Meinung. Für sie ist der Händedruck eine Art Visitenkarte. „Da ist zum Beispiel der Schraubstock-Typ.“ Heike verdreht die Augen. „Der drückt zu, so doll er kann, um zu zeigen, wie stark er ist. In Wahrheit sind das fast immer ganz unsichere Kerle.“ Heike macht weiter. Ist der Händedruck weich wie ein Waschlappen? „Dann hat die Person kein Selbstvertrauen.“ Jemand ergreift ihre Hand mit beiden Händen? „Warmherzig, übertreibt’s aber manchmal damit“, doziert Heike. Was, wenn jemand so kräftig schüttelt, als würde er einen Martini mixen? „Enthusiastisch und energiegeladen“, sagt Heike. „Und bevor du fragst: Eine Schweißhand heißt nicht, dass jemand ängstlich ist. Da hab ich meine Erfahrungen. Das können ganz coole Leute sein.“ Einen letzten Typus hat sie noch auf ihrer Liste: „Wer die Hand länger schüttelt, als man erwartet, kann meist auch gut zuhören.“

Keine Ahnung, ob das alles stimmt, aber ich mag Heikes Ansatz. Ihre Philosophie macht mir klar, dass ich die alte Selbstverständlichkeit in dieser Begrüßung vermisse. Ein Händedruck ist wie ein handgeschriebener Brief. Seine eigentliche Botschaft steht zwischen den Zeilen, durch Schriftbild, Schwung und Sauberkeit wusste man auch da, was beim anderen gerade los war. Waren solche Briefe nicht auch wertvoller, persönlicher, reicher als die schnellen Textbotschaften oder E-Mails von heute? Der Händedruck ist zeitlos und nostalgisch zugleich. Für dieses Jahr gehört das zu meinen Vorsätzen: Ich möchte mir mehr von dieser Nostalgie in den Alltag holen und bewusst mehr Hände schütteln – solange mir dabei kein Virus einen Strich durch die Rechnung macht. Und wenn mich jemand doch mal ganz doll umarmen will, geht das nach so einem Händedruck ja immer noch.

 

Text: Jochen Metzger