Die Macht des Schweigens

Einfach mal die Klappe halten

Gefühlt hat jede und jeder zu allem eine Meinung. Und oft kriegen wir diese unaufgefordert wie eine Kassette ins Ohr geschoben. Wie gut tut es da, wenn Leute bekennen, dass sie von etwas null Ahnung haben und lieber dazu schweigen.

Eine Nahaufnahme von Andrea Benda, die dieses Essay geschrieben hat
Andrea Benda, Foto: Andrea Benda

Andrea Benda

geboren 1974 in Freiburg, ist freie Autorin und versucht selbst in ihrem Wohnzimmer die Welt aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen: Über ihrem Sofa hängen zwei Fotos von Kinosälen – links das Kino International in Ostberlin, rechts der Zoo-Palast in Westberlin.

Die Kunst des Schweigens in einer lauten Welt der Meinungen

Mein Freund Jens besitzt ein T-Shirt, das ich sehr mag. Auf dem sieht man die Zeichnung eines altmodischen Grammophons mit einem riesigen Schalltrichter, darunter steht der Satz: „Muss man immer alles kundtun?“ Sehr häufig wünsche ich mir Jens in dieser Kluft herbei, etwa, wenn ich wieder mal einen Menschen treffe, dem selbst so ein Trichter angewachsen zu sein scheint, aus dem er seine Meinung zu allem und jedem in die Welt plärrt. Ungefragt. Und meist auch unbedacht. Wie gerne würde ich in solchen Momenten nur still und anklagend auf den T-Shirt-Slogan deuten, mit einem strengen Gesichtsausdruck, der dem Plärrer auch wortlos zu verstehen gibt: „Halt doch einfach mal die Klappe!“

Einfach mal die Klappe zu halten ist eine Tugend, die in unserer meinungsstarken Welt zunehmend verschwindet. Mehr denn je scheint die alte Weisheit des Humoristen Karl Valentin zu gelten: „Es ist schon alles gesagt worden, nur noch nicht von allen.“ Ist das noch ein Witz oder schon eine Zustandsbeschreibung der Gegenwart? Die Ära der Selbstdarstellung hat uns zu einer vorwiegend ichzentrierten Gesellschaft gemacht, in der die Gefühlseinschätzung des Individuums höher bewertet wird als handfeste Fakten. Haltung ist alles und leicht einzuordnen soll sie bitte auch sein: schwarz, weiß, rechts, links, dafür, dagegen! Ukrainewaffen, Klimakleber, Ampelpolitik – was denkst du darüber, zack, zack?

Ich bin manchmal überfordert, wenn ich in einer standpunkttrunkenen Runde nach meiner Meinung zu einem bestimmten Thema gefragt werde. Denn vielleicht habe ich da noch gar keine. Vielleicht werde ich auch nie eine endgültige haben. Es fällt mir schwer, bei komplexen Sachverhalten ohne zu zögern Sätze rauszuhauen, die plakativ wie „Bild“-Schlagzeilen sind. Ich gehöre zum offenbar schrumpfenden Freundeskreis der Abwägenden, Nachfragenden und Grauzonensehenden. In Situationen, in denen sich andere lautstark ihre Ansichten vor die Stirn klatschen, als müssten sie sie dem Gegenüber wie Luthers Thesen ans Kopfbrett nageln, möchte ich oft lieber abwinken und sagen: „Keine Ahnung, darüber weiß ich einfach noch nicht genug.“

Das ist allerdings gar nicht so einfach. Denn Leute, die nicht zu allem eine griffbereite Meinung haben, werden eher selten als besonders umsichtige Menschen wahrgenommen, die alle Seiten beleuchten wollen. Stattdessen werden sie schnell als uninformiert oder weltfremd abgestempelt, als unpolitische Schafe ohne Twitter-/X-Account.

 

 

Die Kunst des Meinungsaustauschs: Zwischen Extrovertiertheit und Abwägung

Stellen Sie sich einen Gast in einer unserer Talkshows vor, der sagt: „Tut mir leid, Herr Lanz, das mit dem Heizungsgesetz habe ich nicht ausreichend durchblickt, um ihnen jetzt was Knackiges dazu sagen zu können.“ Oder: „Ich esse selbst immer noch Kuhprodukte, kann aber durchaus anerkennen, dass ein weitgehender Verzicht besser für unsere Welt wäre, deshalb möchte ich auch niemanden ‚Hafermilchterrorist‘ nennen.“ Das wäre doch mal eine erfrischende Abwechslung im „Ich sage Ihnen jetzt mal, was richtig ist“-Segment. Noch mal eingeladen würde ein solch ehrlicher Gast wohl aber nicht.  Da überlegt man schon, ob es nicht bequemer ist, sich einfach in den Posaunenchor einzureihen und die lauten Töne der einfachen Stammtischargumente mitzutröten – auch wenn im Inneren vielleicht ein schales Gefühl zurückbleibt. So trainieren wir uns nach und nach eine krampfhafte Extrovertiertheit an, selbst wenn wir lieber abwägende Drinnies wären. Beim „Einfach-mal-Meinung-Raushauen“ darf man nämlich kein allzu großes Schamgefühl entwickeln (was ja eher eine Spezialität von introvertierten Menschen ist) – schließlich muss man immer darauf gefasst sein, dass man möglicherweise Quatsch redet und die Gegenseite ein besseres Argument vorbringt, das die eigene Auffassung widerlegt oder zumindest weniger eindeutig macht.

Aber: Diskutiert man nicht eigentlich, um sich von zwei entgegengesetzten Seiten kommend irgendwo in der Mitte zu treffen oder um zumindest anzuerkennen, dass es mehrere Seiten gibt? Kommunizieren wir nicht miteinander, um unser eigenes Weltbild immer wieder abzugleichen mit den Blickwinkeln von Menschen, die nicht aus derselben Gesellschafts-Bubble stammen? Wie soll das gelingen, wenn wir uns gegenseitig immer nur die eigene Meinungskassette reinschieben und bei Widerstand den Lautstärkeregler hochdrehen?

Ein Plädoyer für das Zuhören und die Demut des Nichtwissens

Ich fände es hilfreich, wenn wieder mehr Menschen zugeben würden, dass sie nicht alles wissen und unsere Welt zu komplex ist, um alles sofort einordnen zu können. Und die deshalb einfach auch mal schweigen. Wer still ist, kann nämlich besser zuhören. Einen Schalltrichter könnte man schließlich auch in die andere Richtung benutzen. Wenn man oben dann einen Eimer voll Meinungswasser hineinschüttet, kommen unten möglicherweise Tropfen der Wahrheit raus, die man als kostbares Destillat in einer kleinen Flasche aufbewahren kann.

 

Text: Andrea Benda