Eine gemütliche Atmosphäre schaffen - ganz einfach

Willkommen, Gemütlichkeit!

Es ist kalt da draußen. Wir fühlen uns getrieben. Zeit zum Runterschalten und Reinkommen: Was es bedeutet, es sich richtig gemütlich zu machen – und was koreanische YouTuberinnen, Blasmusik und Raubtiere damit zu tun haben.

Ein mann und eine Frau sitzen auf dem Boden vor Ihrem Sofa mit weihnachtlichen Pullovers. Die Frau lacht, während der Mann Ihr gerade etwas erzählt.
Foto: Getty Images

Wenn die koreanische YouTuberin Nyangsoop ihre Handykamera anschaltet, öffnet sich das Fenster zu einem kleinen Paralleluniversum. Man sieht jeden ihrer Handgriffe in Nahaufnahme: wie sie dampfende Knödel aus einem Topf fischt. Raschelnde Bettwäsche mit gepflegten Händen glatt zieht. Ihre Katze so lange streichelt, bis dieser die Augen zufallen. Und wie der Schnee vorm Fenster zum Hintergrundsound von Radiostimmen und blubberndem Kochwasser rieselt. Nie war es hypnotischer, jemandem bei der alltäglichen Hausarbeit zuzusehen – finden auch die rund 1,1 Millionen Follower von Nyangsoops „Silent Vlog“. Die Szenen erwecken das Gefühl, als würde sich alles, was zählt, gerade in diesen vier Wänden abspielen: Gelassenheit, Routine, Nestwärme.

Hereinspaziert, Gemütlichkeit! Nyangsoops Bilder und die von anderen erfolgreichen „Silent Vloggerinnen“ zeigen in hübscher Inszenierung das, wonach wir uns sehnen: einen überschaubaren Alltag und die Abwesenheit von Stress. Und gleichzeitig stellen sie natürlich eine unverschämte Realitätsverweigerung dar. Gemütlich geht es selten zu, weder im Haushalt noch in dieser Welt da draußen, in der man gar nicht weiß, worüber man sich zuerst Sorgen machen soll: Kriege, Klimakatastrophen oder soziale Kälte? Wer aber trotz aller Misere den Verstand nicht verlieren möchte, dem bleibt fast nichts anderes übrig, als sich zeitweise in Parallelwelten zu flüchten. In weich gepolsterte Blasen, in denen wir uns abschotten können gegenüber dem, was Erschütterungen erzeugt. Solche Blasen lassen sich zwar auf YouTube finden, doch echte Gemütlichkeit lebt nicht allein von Bildern.

Die Erfindung der Gemütlichkeit geschah vor rund 200 Jahren, und das ausgerechnet in deutschen Wohnzimmern. Die „gute Stube“ wurde in der Biedermeierzeit zum Safe Space der Deutschen, in den sie sich in ihrer Unsicherheit nach den napoleonischen Kriegen zurückzogen. In den eigenen vier Wänden zelebrierte man das Glück beim Kaffeekränzchen und bei Hausmusik, Häkelarbeiten und beim Auswendiglernen von Gedichten – kurz: Man besann sich auf alles, was dem „Gemüt“, also dem Seelenleben, guttat. Die daraus geborene Kultur der Gemütlichkeit wurde im Ausland als bemerkenswert empfunden. Erzählungen von der „German Gemütlichkeit“ gingen auf Weltreise und machten sie zum Exportschlager. Das deutsche Konzept von Heimeligkeit und Geselligkeit suchen Reisende aus den USA wie aus Asien bis heute bei Veranstaltungen wie dem Oktoberfest. Hier begegnen sie ihrer Klischeevorstellung von Gemütlichkeit in Gestalt von Bier, Blasmusik, Beisammensein. Generationen von Sprachschülerinnen und Sprachschülern mussten vermutlich Aufsätze über das „typisch deutsche“ Kulturgut verfassen – bei einer Umfrage von 2019 wählten Deutschlernende aus 46 Ländern die „Gemütlichkeit“ als Lieblingswort auf den ersten Platz.
 

„Rituale geben uns das Gefühl von Sicherheit und Beständigkeit"

 

Mit diesen drei Zutaten wird's daheim gemütlich

  • 1. Das Zauberwort heißt: „indirektes Licht“. Statt einer zentralen Leuchtquelle – typischerweise eine Deckenlampe – sorgen viele kleine Leuchten, verteilt auf unterschiedlichen Höhen, für Behaglichkeit.

  • 2. Haptische Materialien. Dazu zählen nicht nur Kissen oder die dicke Strickdecke über der Sofalehne, sondern auch warme Hölzer oder Polstermöbel mit viel Textur, etwa flauschige Bouclé-Stoffe.

  • 3. Farben: Generell wirken neutrale Farben, also typischerweise solche, die wir als natürlich empfinden, beruhigend auf uns. Mit erdigen Braun-, Sand- oder Grautönen erreicht man diesen Effekt am besten.

 

 

Sich zu Hause einmummeln

Die Vokabel „Gemütlichkeit“ gilt als quasi unübersetzbar. Im Onlinelexikon „The Positive Lexicography“ sammelt der Psychologe Tim Lomas von der University of East London genau solcherlei Wörter, die kulturelle Phänomene ihrer Herkunftsländer beschreiben. Die Verwendung des Wortes „gemütlich“ beschreibt dort eine Autorin so: „Einen weichen Sessel in einem Café könnte man als ‚bequem‘ bezeichnen. Aber in diesem Sessel zu sitzen, umringt von guten Freunden und einer heißen Tasse Tee, während im Hintergrund sanfte Musik spielt – diese Szene würde man ‚gemütlich‘ nennen.“

Auch Erfolgsrezepte müssen sich in 200 Jahren mal neu erfinden – und sei es nur sprachlich. Nach Jahren in guten Stuben zwischen Eichenholzschrankwänden und Spitzenplatzdeckchen hatte die Gemütlichkeit Staub angesetzt, doch die Sehnsucht nach dem Gefühl blieb. US-Trend-Guru Faith Popcorn erfand dafür 1981 den Begriff „Cocooning“, der moderner klang, aber erkennbar Bezug zur Gemütlichkeit hatte: sich zu Hause einmummeln wie in einem Kokon, es sich schön machen, die böse Welt einfach vor der Haustür stehen lassen. „Cocooning“ wird seitdem immer wieder bei Marketingstrategien zum Trend, wenn die Welt Wunden trägt: Etwa 2001 nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center, zuletzt während der Coronapandemie.

Wachsende Begeisterung für alles, was aus Skandinavien kommt, besonders in Sachen Design, führte 2015 schließlich zur weltweiten Annexion des dänischen Begriffs „Hygge“. Jenes nordische Überlebenskonzept für lange Winter setzt sich aus der Wertschätzung der kleinen Dinge, Kerzenschein und Möbeln aus authentischen Materialien zusammen. Aber auch „Hygge“ hat jetzt schon ein paar Jährchen auf dem Buckel und die Generation Z ihre eigenen Gemütlichkeitsvorstellungen definiert: Die reichen vom Trend „Cottagecore“, bei dem der Rückzug in Bauerngärten gefeiert wird, über Großmutter- würdige Hobbys wie Sticken oder die Zubereitung von Sauerteig bis hin zu JOMO – „Joy of Missing Out“, der charmantesten Entschuldigung dafür, im Pyjama vor Netflix zu versacken. Wie man sie auch nennt – Gemütlichkeit kann man nicht kaufen. Doch man kann ihr den Weg ebnen.

Wie geht das genau? „Der Mensch ist ein Geborgenheitswesen“, weiß Psychologieprofessor Hans Mogel von der Universität Passau, der viele Jahre zu dem Thema geforscht hat und die wichtigsten Zutaten fürs Gefühl benennt: Sicherheit, sozialer Kontakt, Nestwärme, Familie und Erfahrungen von Gemeinschaft. Die Gemütlichkeit stellt sich meist mit sentimentaler Note ein. Ob es um den Duft von Mamas Weihnachtsplätzchen geht, die frisch aus dem Ofen kommen, oder um das Ritual, wie der Christbaum gemeinsam geschmückt wird: Der Charme von Gemütlichkeit liegt in der Berechenbarkeit. Sie braucht nichts Aufregendes, keine Superlative, keine Perfektion, sondern das Gefühl, wie Erinnerungen unsere Neuronen kitzeln – dann, wenn statt des Stressbotenstoffs Adrenalin das Bindungshormon Oxytocin durch unsere Adern fließt.

 

Blogs als Inspiration

  • Instagram.com/beahyggespreder
    „In jedem Tag steckt etwas Gemütlichkeit“, ist die Berlinerin Vanni überzeugt. Auf Instagram postet sie leckere Rezepte, nette Dekound Geschenkideen und zwischendurch ein paar Schnappschüsse, die sie auf den Reisen mit ihrem selbst renovierten Camper (vorzugsweise in Norwegen) macht.

  • Hyggeforhome.com
    Die Designerin Reena Simon aus Cardiff lebt in einem von Kopf bis Fuß in Hygge-Ästhetik gestalteten Haus voller gemütlicher Texturen und zeigt in ihrem Blog jahreszeitliche Inspiration für Dekoration und Einrichtung.

  • Instagram.com/snyggehygge
    Bloggerin Bea aus Schleswig-Holstein hat ihren Altbau von 1900 mit einem stilsicheren Mix aus Skandi-Möbeln, Antiquitäten, Kerzen, Blumen und Zweigen aus dem Garten eingerichtet. Ihr Zuhause steckt voller Ideen zum Nachmachen.

„Unsere Sinne sehnen sich nach etwas zum Fühlen, nach Wärme und Licht"

 

 

Der Höhlenmensch in uns

Doch was ist, wenn Wurzeln und Rituale fehlen, etwa, weil keine Familie (mehr) da ist? Dann brauchen unsere Sinne umso mehr Futter, denn auch diese spielen für das Empfinden von Gemütlichkeit eine Schlüsselrolle. Nehmen wir den Archetyp Kaminfeuer: Eine Studie der Universität von Alabama ergab, dass das Stresslevel von Studienteilnehmenden beim Anblick von Feuer abnahm, sogar dann, wenn sie nur ein Video von einem knisternd brennenden Kamin vorgespielt bekamen. Ihr Blutdruck sank dabei um durchschnittlich 5 Prozent.

Die Sinne werden auch im Interior Design immer wichtiger. Eine der Expertinnen auf diesem Gebiet ist die US-Umweltpsychologin Lily Bernheimer. Sie fand heraus, dass wir uns am wohlsten in Räumen fühlen, wenn sie unsere Bedürfnisse nach „Zuflucht und Aussicht“ berücksichtigen. Der Schutz vor Raubtieren in dunklen Höhlen oder ein erhöhter Aussichtspunkt, an dem man Gefahren schon von Weitem erkennen konnte, waren fürs menschliche Überleben einst elementar. Vereint man diese Aspekte in seinem Zuhause – schummrige Nischen etwa, in die man sich zurückziehen kann, und sei es nur ein Ohrensessel, dazu im Idealfall große Fenster mit Ausblick, dürfte das dem Gemütlichkeitsideal schon ziemlich nahekommen. Außerdem meint Bernheimer: „Ein extrem geordnetes Umfeld, das wenig Abwechslung in Farbe, Material, Details und Dekoration bietet, kann sehr langweilig sein, denken Sie nur an Krankenhäuser.“ Besser fühlen wir uns in Räumen, in denen sich Strukturen abwechseln, so wie in der Natur. Stellen wir uns zum Beispiel einen Raum vor, in dem es dicke Strickdecken gibt, gemustertes Porzellan und viel warmes Holz: Je mehr Informationen wir von unserer Umgebung bekommen, desto geborgener fühlen wir uns darin.

Ob wir es nun Cocooning nennen oder Gemütlichkeit: Wenn’s draußen ungemütlich ist, darf man sich auch mal kurz in Realitätsverweigerung flüchten – und es sich richtig muckelig machen im eigenen Paralleluniversum.

 

Neue cozy music

  • Laufey – „Bewitched“ / Awal
    Die Musik der isländischen Sängerin hat den Vibe von nostalgischer Filmmusik – sie selbst nennt sie einen Mix aus Jazz-Pop und „Bedroom Pop“.

  • Gracie Abrams – „Good Riddance“ / Universal Music
    Die US-Singer-Songwriterin mit sanfter Stimme veröffentlichte gerade ihr erstes Album mit gefühligem Indie-Pop.

  • Kings of Convenience – „Peace or Love“ / PIAS
    Hintergrundmusik, die ins Gemüt wandert: Das norwegische Folkduo erinnert an die verträumten Anfänge von Simon & Garfunkel.

Die gemütlichsten Serien und Filme

  • „Ein Sturm zu Weihnachten“ (Netflix)
    Durch einen Schneesturm sitzen Reisende und Airport-Personal am Osloer Flughafen fest. Dabei lernen sich die unterschiedlichsten Charaktere kenne, es entstehen neue Verbindungen. Kurzweilige norwegische Miniserie.

  • „Süße Magnolien“ (Netflix)
    Gerade erschien die dritte Staffel über die Freundschaft zwischen drei Frauen aus den Südstaaten, die sich gemeinsam durch die Höhen und Tiefen des Lebens kämpfen. Und weil am Ende immer alles wieder gut wird, fühlt sich diese Serie wie eine warme Umarmung an.

  • „Finding Hygge“
    Eine Dokumentation zum dänischen Konzept von Glück, die nach einer Erklärung sucht, warum sich so viele Menschen zum Hygge-Trend hingezogen fühlen – humorvoll, differenziert und ein bisschen philosophisch. (Streaming unter findinghyggefilm.com)

 

Text: Tina Röhlich