Neue Wege wagen

Geht doch!

Ja, ich mach das jetzt: Wir stellen Ihnen Menschen vor, die genug hatten von großen Reden und guten Vorsätzen. Menschen, die das, was ihnen wichtig und notwendig erschien, einfach angepackt haben. Was sie mit Hartnäckigkeit und Zivilcourage erreicht haben, macht uns Mut – und gute Laune!

Ja sagen neues wagen
Foto: iStock/OgnjenO

Das Konzert war bombastisch. Applaus braust auf, Bravorufe werden laut. Da steht der Erste auf, dann noch einer, schließlich hält es keinen mehr im Sitz: Standing Ovations! Einer hat angefangen und eine Welle der Begeisterung ausgelöst.

So illustriert der britische Physiker Len Fisher gerne, was er mit „Schwarmintelligenz“ meint: „Ein Einzelner kann einen unglaublichen Einfluss auf die Gruppe ausüben.“ Ameisen gelten als Meisterinnen dieser Methode. Erst kundschaftet eine den besten Weg aus, andere gehen ihr nach. Bis dann die ganze Gruppe folgt – und ein Fortschritt für alle erreicht ist.

Ein Einzelner kann einen unglaublichen Einfluss auf die Gruppe ausüben.

Menschen, die neue Wege wagen

In unserem Dossier stellen wir Ihnen Menschen vor, die sich auf neue Wege gewagt haben. Aus Leidenschaft für eine Sache. Oder mit dem Gedanken: „Das kann ich besser.“ Die eine, weil sie mit Lust und Kreativität eine schwere Lebenssituation gestalten wollte. Der andere, weil er einen Missstand nicht mehr länger hinnehmen konnte. Und plötzlich ist durch ihren Einsatz etwas entstanden, das größere Kreise zieht und mehr bewirkt, als die Initiatoren sich jemals erträumt haben.

Gut, dass es solche Menschen gibt. Menschen, die „ihr Ding“ machen und andere mitreißen. Natürlich haben auch sie mal Zweifel und kämpfen gegen Widerstände. Doch das spornt sie häufig erst recht an. In seinem neuen Buch „Alles könnte anders sein“ staunt selbst der Soziologe Harald Welzer, dass weltverändernde Bewegungen so oft von Einzelnen angestoßen wurden: „Deshalb ist es so wichtig, dass es eine oder einen gibt, die oder der eben doch den Unterschied macht. Indem sie oder er einfach etwas tut.“

Neues wagen
Soll ich, oder soll ich nicht – z. B. Rhönrad fahren, Schlagzeug lernen oder Kühe melken? Warum nicht zuerst höchst amüsant über kleine und größere Wagnisse lesen und dann entscheiden – Isabel Bogdan: „Sachen machen“, Rowohlt Verlag.

Michael Recktenwald und seine Frau
Michael Recktenwald (53) betreibt mit seiner Frau (r.) und Familie das Bio-Hotel „Strandeck“ auf Langeoog. Infos zur Klage unter peoplesclimatecase.caneurope.org

Eine Inselfamilie klagt bei der EU mehr Klimaschutz ein

Dies ist eine Geschichte von Zivilcourage, von David gegen Goliath. Nur 20 Quadratkilometer klein ist die ostfriesische Insel Langeoog, das Meer rauscht und tost fast vor der Haustür der Familie Recktenwald. Seit 40 Jahren führt diese hier, am Rande des Nationalparks, ein Restaurant, später kamen Bäckerei und Bio-Hotel dazu.

Doch steigender Meeresspiegel und stärkere Stürme infolge des Klimawandels nagen an den Dünen, tragen den Strand ab. Dringt das Meer in die Süßwasserreservoire ein, wird es auf der Insel kein Trinkwasser mehr geben. Maike und Michael Recktenwald sehen ihre Grundrechte gefährdet: das auf Leben und Gesundheit, das auf das Wohl der Kinder sowie auf Eigentum und die freie Berufsausübung.

Courage ist gut. Ausdauer ist besser. Ausdauer, das ist die Hauptsache.

Theodor Fontane (1819–1898) in „Der Stechlin“

Daher klagen sie vor dem Europäischen Gerichtshof, ebenso wie neun andere Familien aus Europa, Kenia und von den Fidschi-Inseln. Sie wollen die EU zwingen, sich stärker für den Klimaschutz einzusetzen. Der Bremer Juraprofessor Gerd Winter hat die 6000 Seiten dicke Klage im Mai 2018 eingereicht, unterstützt wird sie von Umweltorganisationen wie Germanwatch. Die Protestaktion hat ein großes Medienecho ausgelöst. „Das zeigt, wie sehr das Thema den Menschen unter den Nägeln brennt“, sagt Michael Recktenwald. Die Familie stellt sich auf ein jahrelanges Verfahren ein. Doch das ist es ihnen wert. „Es muss sich etwas ändern. Wir freuen uns, dass wir ein Puzzleteil dazu beitragen können.“

Monika Fuchs
Kochen und gemeinsam essen macht aus Fremden Freunde: monika-fuchs-kocht.de

Ja zu mehr Miteinander: Monika Fuchs lädt Fremde zum Essen in ihre Küche

Sie hat vier Kinder und einige Pflegekinder großgezogen und war immer berufstätig. Doch freitagabends plagt Monika Fuchs (81) Lampenfieber: Um 18 Uhr kommen 24 Menschen, die sie nie vorher gesehen hat, zum „Supper-Club“ in ihre Wohnung in Hamburg-Eppendorf. Für sie zaubert Monika, die lange das Catering für eine TV-Show machte, in ihrer Küche ein Fünf-Gänge-Menü.

Manche, die sich hier begegnen, scheiden als Freunde.

Supper Club Monika Fuchs
Foto: Shutterstock

Nach dem Hauptgang stellt sie der Runde drei Fragen. Denn sie möchte, dass ihre Gäste sich im Gespräch nahekommen. „Manche, die sich hier begegnen, scheiden als Freunde“, sagt Fuchs, „da ist eine Magie, die über dem Raum schwebt.“ Sechzig Euro kostet ein Abend inklusive aller Getränke. Bleibt Geld übrig, spendet sie an das „Waldpiraten-Camp“ für krebskranke Kinder und deren Geschwister in Heidelberg. Begonnen hat sie mit dem Supper-Club vor vier Jahren. Damals wurde ihr kranker Mann, ein Hotelier, bettlägerig. Sie wollte bei ihm sein, gab ihre Cateringfirma auf und wurde Gastgeberin zu Hause. Zwei Jahre teilten sie ihre Erlebnisse mit den Gästen, dann starb er. Sie machte weiter. Angst vor Querulanten hat sie nicht: „Die Menschen sind grottenglücklich hier – und ich auch.“

Wissen teilen
Die einen können, was die anderen brauchen. Jugendliche helfen Älteren z. B. beim Umgang mit dem Computer und bessern so ihr Budget auf. Die Vermittlung übernimmt eine „Taschengeldbörse“. Einfach unter diesem Stichwort googeln und die nächste in Ihrem Umfeld kontaktieren.

Claudia Kessler will deutsche Astronautinnen auf die ISS bringen

Claudia Kessler
Bevor sie sich ganz ihrer Initiative widmete (dieastronautin.de), war Claudia Kessler (54) Geschäftsführerin bei der HE Space, einem Personaldienstleister der Branche | Foto: Die Astronautin

„Elf deutsche Männer waren bislang im All, aber keine einzige Frau aus unserem Land! Das möchte ich ändern. Deshalb habe ich 2016 die private Initiative ‚Die Astronautin‘ gestartet, die geeignete Frauen gecastet hat. Unsere Kandidatinnen Insa Thiele-Eich und Suzanna Randall bereiten sich gerade intensiv auf den Start vor. Nächstes Jahr soll es losgehen.

Auf der internatio­nalen Raumstation ISS wird zunächst eine von beiden zehn Tage lang forschen, unter anderem über die Auswirkungen auf den weiblichen Körper und die Psyche. Allerdings sind die Kosten von rund 50 Millionen Euro für das Projekt noch nicht gesichert. Warum ich das mache? Mädchen brauchen Vorbilder, vor allem in den Naturwissenschaften.

Ich selbst wollte Astronautin werden, seit ich denken kann. 1969 schaute ich mit meinen Eltern die erste Mondlandung im Fernsehen, da war ich vier Jahre alt. Später studierte ich als erste Frau in München Luft- und Raumfahrttechnik. Noch vor dem Abschluss des Studiums habe ich mich als Astronautin beworben – ohne Erfolg. Ich war noch nicht alt genug. Doch ich habe viele andere spannende Aufgaben in der Branche übernommen. Ich lasse mich eigentlich nie von Rückschlägen aufhalten. Ich bin eher ein Typ, der „Jetzt erst recht“ denkt und danach handelt. Der italienische Astronaut Paolo Nespoli, der 2017 zur ISS flog, war 60 Jahre alt. Also habe ich noch ein bisschen Zeit!“

Juliane Kronen rettet Waren mit Schönheitsfehlern vor der Vernichtung

Unternehmensberaterin Juliane Kronen
Das von Juliane Kronen gegründete Unternehmen innatura.org ist inzwischen mehrfach ausgezeichnet worden

Unfassbar, aber wahr: Neuwertige Waren werden massenweise vernichtet, nur weil sie kleine Schönheitsfehler haben. Die Kölner Unternehmensberaterin Dr. Juliane Kronen wollte das ändern und gründete 2013 das inzwischen mehrfach ausgezeichnete Non-Profit-Unternehmen innatura.

Frau Kronen, was ist ihr Ziel?
Hierzulande werden jedes Jahr fabrikneue Waren im Wert von sieben Milliarden Euro entsorgt, zum Beispiel weil sie ein verdrucktes Etikett haben. Zugleich werden Dinge wie Spielzeug, Windeln, Körperpflegeprodukte oder Werkzeug dringend im sozialen Sektor benötigt. Ich will Angebot und Nachfrage zusammenbringen.

Spielzeug
Foto: iStock

Wie arbeiten Sie? Wir haben 1100 Artikel im Sortiment, die wir als Sachspende von der Industrie einwerben. Rund 1200 gemeinnützige Organisationen bestellen diese dann online bei uns, außer Versand und Vermittlungsgebühr zahlen sie nichts. Mit dem Geld, das sie sparen, finanzieren sie Dinge, für die sonst nichts übrig bliebe. Ein Kinderhaus hat zum Beispiel einen Chor und ein Orchester gegründet.

Was ermutigt Sie?
innatura ist eine systemische Lösung für ein Problem, das war mir sofort klar. Doch in der konkreten Umsetzung musste ich viele Hürden überwinden. Ich bin in einer Unternehmerfamilie groß geworden. Da lernt man, einen langen Atem zu haben. Wenn eine Idee mich packt, bleibe ich dabei.

#Trashtag-Challenge
Ausnahmsweise mal eine Insta-Challenge, die der Umwelt nützt: an einen Ort gehen, den man vom Müll befreien will, und die Vorher-/Nachher-Fotos unter #trashtag posten!

Marcus Jogerst-Ratzka erfand eine neue Art Seniorenheim

Marcus Jogerst Ratzka
Marcus Jogerst-Ratzka (44) leitet das von ihm gegründete Seniorenhaus Renchen

Er nennt sein Seniorenhaus „Lebeheim“, nicht Pflegeheim. 2004 hat Marcus Jogerst-Ratzka es gegründet und sich dafür hoch verschuldet: 4,5 Millionen Euro Investitionskosten mussten aufgebracht werden. Doch das ist es ihm wert. Er will zeigen, dass es anders geht: dass alte Menschen im Heim zu Hause sein können und nicht nur versorgt werden.

Im Seniorenhaus Renchen leben sie in Wohngruppen, täglich kochen die Bewohner gemeinsam, das hält geistig frisch und stärkt die Gemeinschaft. „Als ich die Idee entwickelte, sagten 98 Prozent der Kollegen: ,Das geht niemals.‘ Doch es geht – seit 13 Jahren.“ 45 Mitarbeiter hat er, der Betrieb trägt sich, erwirtschaftet aber so gut wie keinen Gewinn. Doch für den gelernten Krankenpfleger ist es unbezahlbar, alten Menschen lebenswerte letzte Jahre zu ermöglichen. Dafür scheut er keinen Aufwand oder Konflikt.

„Neugier und Dickköpfigkeit sind mein Antrieb“, sagt Jogerst-Ratzka. Bundesweit ist er zu einer wichtigen Stimme für menschenwürdige Pflege geworden. Entspannen kann er am besten in seinem Garten. „Das ist so wunderbar einfach: Man gibt den Samen in die Erde, lässt der Natur ihren Lauf, und es wächst!“

Die Welt retten
„Und jetzt retten wir die Welt“ von Marek Rohde und Ilona Koglin ist ein Handbuch für Idealisten und Querdenker (Kosmos Verlag).

Zwei Freunde entwickeln den ersten Insektenburger Deutschlands

Max Kraemer und Baris Oezel
Max Krämer (33, l.) und Baris Özel (31) studierten BWL und Geografie, bevor sie die Bugfoundation gründeten. Die Burger-Patties in zwei Größen gibt es auch in Ihrem tegut… Markt! | Foto: Bugfoundation

In Thailand bissen Baris Özel und sein bester Freund Max Krämer das erste Mal in eine geröstete Heuschrecke. Es kostete etwas Überwindung. „Doch dann waren wir uns sofort einig: superlecker, kross und nussig!“, sagt Özel.

Wieder zu Hause, experimentierten sie herum und gründeten nach ihrem Studium die Bugfoundation in Osnabrück. Das Ziel: „Wir wollen das Essen von Insekten in Europa alltäglich machen.“ Natürlich tippten sich alle an die Stirn, die davon hörten: „Ihr spinnt doch!“ Doch die zwei blieben hartnäckig.

Insektenzucht braucht wenig Wasser, wenig Futter, kaum Fläche – sie ist daher auch in puncto Nachhaltigkeit eine echte Alternative. 2015 präsentierten sie den ersten Insektenburger Deutschlands: ein Pattie größtenteils aus Mehl von getrockneten Buffalowürmern, reich an Proteinen und frei von Zusatzstoffen. In Deutschland waren Insekten als Lebensmittel damals noch nicht zugelassen. Also kamen die Burger zunächst bei den fortschrittlicheren Belgiern und

Insektenburger
Der Insektenburger | Foto: Bugfoundation

Niederländern auf den Tisch. „Das Verbot hat uns angespornt“, sagt Özel. 2018 änderte sich das Gesetz. Die Bugfoundation wird weiter wachsen und Alternativen zu Fleisch produzieren. Woher ihr Biss kommt? „Uns treibt die Freude von zwei Freunden an, etwas völlig Neues zu machen.“

Von Sabine Henning