High Heels und Hängematte

Unser Autor ist vor einiger Zeit aus der Großstadt aufs platte Land gezogen. Und stellt fest, dass sein Freundeskreis nicht unbedingt gummistiefelkompatibel ist.

Ein Mann mit weißem Bart, schwarzer Brille und einer Glatz steht vor einer gemusterten Tapete für ein Portraitfoto
Foto: Sabine Braun

Harald Braun
Der Journalist liebt Sydney und reist mit seiner Frau, einer Fotografin, für Reportagen um die ganze Welt. Ist er wieder zu Hause in der Pampa, hat er viel Zeit zum Schreiben – und der Provinz nachzuspüren, so etwa in „Das Gummistiefel-Gefühl“.

Seitdem ich direkt neben einem Acker auf dem platten Land lebe, habe ich eine erstaunliche Erkenntnis gewonnen: Viele Stadtmenschen fühlen sich auf dem Land nicht wohl. Gute Luft ist ihnen wumpe, das Gefühl der Verlorenheit irgendwo in JWD sehr groß. Es gibt Leute in meinem Bekanntenkreis, für die sich ein Wochenende bei uns anfühlt wie eine dreiwöchige Verbannung ins Landschulheim. Allein diese Fahrt: „Das dauert ja ewig!“ Es dauert nicht ewig. Wir reden über 45 Minuten. Maximal. Einige meiner besten Freundinnen und Freunde haben es bis heute nicht geschafft, die 35 Kilometer von Hamburg zu uns in Angriff zu nehmen. Verrückt. Der Rest der Landskeptikerinnen und -skeptiker schafft es immerhin, so ein- oder zweimal im Jahr bei uns aufzuschlagen. Spaß haben sie dabei offenbar nicht.

Ich erkenne das inzwischen routiniert an ihren flackernden Blicken, die in Großbuchstaben fragen: Was zum Teufel ist denn hier los? (Plus den Antworten in ihren ratlosen Gesichtern: „Offenbar gar nichts!“) So viel Stille ist für so manchen halt schwer auszuhalten. Und dann sind da auch noch diese nervösen Fragen, die die Landskeptikerinnen und Provinzverachter gleich verraten.

„Wird hier viel eingebrochen?“ lautet eine der üblichen Erkundungen oder „Gibt es hier auch Pferderipper?“. Beliebt sind auch die besorgten Fragen nach unseren infrastrukturellen Möglichkeiten. 1. Medizinisch: „Gibt’s in der Nähe einen Arzt?“ 2. Gastronomisch: „Pizzadienst in der Nähe?“ 3. Politisch: „Viel AfD in der Nachbarschaft?“ 4. Kulturell: „Ich wette, die haben hier einen geilen Feuerwehrball!“ 5. Kommunikativ: „Habt ihr hier überhaupt WLAN?“ (Hier meine Antworten, für diejenigen, die es wirklich wissen wollen: 1. Ja; 2. Doch, sogar sehr gut; 3. Geht so – aber gar keine Reichsbürgerinnen und -bürger; 4. Keine Ahnung!; 5. Bestes Breitbandkabel.)

Weibliche Gäste kommen gern mal im kurzen Rock und tragen Stiefel mit spitzen Absätzen oder High Heels. Ich glaube ihnen, dass sie einfach nicht darüber nachgedacht haben, dass man in Manolo Blahniks besser nicht über sumpfige Wiesen läuft. Kuhdung und Schlammpfützen sind auch keine Vorboten der Apokalypse, sondern ganz normale Kulissen der Provinz. Es ist offenbar schwer, den Unterschied von „Draußen“ auf dem Land und, sagen wir, an der Hamburger Außenalster zu antizipieren.

Auf Wunsch lasse ich meine Freunde auch schon mal mit unserem Hund eine kleine Runde drehen. Hinterher werden dann gern verschmutzte Kamelhaarmäntel oder taubenblaue Gigli-Anzüge herumgezeigt, die von braunen Erdklumpen neu gemustert worden sind. Ich gestehe, dass mich das jedes Mal aufs Neue amüsiert. Selbst schuld! Ich kann zu meiner Entlastung vorbringen, dass ich meinen Gästen jedes Mal Gummistiefel und einen alten Parka anbiete, bevor sie sich auf den Weg ins Gelände machen. Das wird in der Regel aber als Zumutung abgelehnt. In modischer Hinsicht scheint mein Freundeskreis zu wenigen Kompromissen bereit. Nicht mal hier bei mir auf dem Land. Ich schätze, das ist eine Frage der inneren Haltung, unter normalen Umständen unterstütze ich das. Aber hier im Off? Was glauben diese Leute denn, wer ihnen da draußen im Gehölz wohl begegnet? Heidi Klum?

Ich habe ein Jahr gebraucht, um mich selbst mit meiner neuen Heimat anzufreunden. Zwei bis drei Jahre dauerte es dann, bis sich auch mein Freundeskreis stabil neu aufgestellt hatte. Mit einigen alten Freunden und Freundinnen kommuniziere ich mittlerweile nicht mehr live, sondern nur noch via Facetime, der Alternative für Leute mit Real-Life- Allergie. Der Rest kommt regelmäßig zu uns raus, wobei sich die Wochenenden im Sommer und Winter nicht nur klimatisch deutlich unterscheiden. Ursprünglich hatte ich befürchtet, dass sich zwischen Oktober und April nur der Wasserableser bei uns sehen lassen würde – und vielleicht noch ein paar unerschrockene Dorfjugendliche als Kürbis verkleidet zu „Halloween“. Weit gefehlt. Es gibt auch in der Stadt Menschen, die Herbstmelancholie und Wintergrauen auf dem Land lieben. Sie rücken im luftdichten Zwiebellook mit Decken und hochprozentigen Getränken bei uns an und richten sich auf ein Kuschelcamp vor dem Kamin ein. Das Schöne an Schleswig-Holstein ist ja, dass man sich nie Gedanken über das Wetter machen muss. Wir wischen uns auf langen Spaziergängen die Regentropfen aus dem Gesicht und stemmen uns gegen den Wind, die Mäntel aufgebläht wie Fallschirme.

Im Frühjahr und Sommer sieht so ein Wochenende auf dem Land natürlich anders aus. Ab 15 Grad aufwärts reist die langsam größer werdende Fraktion meiner Freiluftfreundinnen und -freunde an. Sie schleppt Hängematten, vegane Würstchen und Bierkästen in den Garten und gruppiert sich vor dem Lagerfeuer. Es geht offenbar um Entschleunigung. Wer sich eine der Gartenliegen gesichert hat, rührt sich nicht vom Fleck und schaut selbst bei akutem Getränkemangel erst mal in die Runde, ob sich nicht ein anderer versehentlich zuerst bewegt. Gastgeber bin ich bei diesen Gelegenheiten nur auf dem Papier. Meine Leute wissen inzwischen ganz genau, wo der Kühlschrank steht und was zu tun ist, wenn das Feuer schwächelt. Meinen Segen braucht dafür niemand, als Dienstleister bin ich aus dem Rennen. Ich glaube, dass unser Freundeskreis es genießt, nicht den ganzen Tag wie Gäste behandelt zu werden. Das ist doch auch anstrengend. Bisher hat sich jedenfalls noch niemand beschwert, und die meisten kommen wieder. Sie lieben die Ruhe und die Einfachheit bei uns hier draußen, lebendige Tiere, Gülle, furchige Wege.

Aber selbst einen Ortswechsel in Erwägung ziehen? Niemals. Für die meisten nicht vorstellbar. Ohne ihre lieb gewonnenen urbanen Segnungen, so sagen sie, können sie sich das Leben nicht vorstellen. Dafür kommen sie aber sehr gerne raus zu uns. Jedes zweite Wochenende.

 

Text: Harald Braun