Naturschutz in Deutschland

Wilde Zeiten

Naturschutzexperten mahnen mehr Flächen in Deutschland an, wo die Natur schalten und walten darf, wie sie mag. Ihr Argument: Selbst extrem vom Menschen ausgebeutete Gegenden werden so wieder zu wertvollen Lebensräumen.

Wald mit Sonnenstrahlen
Foto: Eric Ryan Anderson

Der ehemalige Truppenübungsplatz Lieberose

Versetzen wir uns für einen Moment in den Seeadler, der gerade über dem ehemaligen Truppenübungsplatz von Lieberose kreist. Wir überblicken: ein Mosaik aus glitzernden Klarwasserseen, Waldbäumen, Heideflächen, riesigen Sanddünen. Darauf Tiere wie Wolf, Biber und Fischotter. Vielleicht erspähen wir mit unseren sprichwörtlich scharfen Adleraugen sogar einen Elch. Oder auch den seltenen Sonnentau, eine fleischfressende Pflanze.

Früher wurde hier Krieg gespielt, es war die größte Anlage dieser Art in der DDR. Heute begeistert Lieberose, südöstlich von Berlin gelegen, Naturfreunde in ganz Deutschland: Die Fläche wurde der menschlichen Nutzung entzogen, damit sich hier wieder die reine Wildnis ausbreitet.

Wilde Natur finden Deutsche am schönsten

Wild ist im Trend. Eine Mehrzahl der Deutschen findet Natur am schönsten, wenn sie am wildesten ist, sagen Studien. Seltsam: Seit dem Mittelalter galt das Wilde erst als das Böse, das am Waldrand lauert. Seit der Industrialisierung als das überkommene Unzivilisierte, das nicht mehr gebraucht wurde. Und jetzt steht die Wildnis plötzlich wieder ungefragt vor der Tür: Mehr als 600 Wölfe streifen derzeit durch hiesige Gefilde. Mit ihnen Luchs und Wildkatze.
Biber besiedeln inzwischen weite Teile der Republik, selbst den Schlosspark von Sanssouci. Polnische Elche machen Stippvisiten in Brandenburg. Im Rothaargebirge sind mächtige Wisente auf freiem Huf zu bestaunen.

Fischotter
Fast ausgestorben, wieder zurück: Fischotter wurden auch im Spessart und im Vogelsbergkreis gesehen | Foto: Daniel Rosengren/Wildnis-in-Deutschland.de

Freies Spiel für die Natur

So viel Wildnis war lange nicht. Und auch nicht so viel Sehnsucht danach. Die Auslagen der Buchhandlungen borden über von Büchern, die Naturgeschichten erzählen. Jahrhunderte kämpfte der Mensch gegen die Wildnis an. Heute ist sie plötzlich ein Ideal. Kaum einer weiß das besser als Manuel Schweiger von der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt (ZGE), Deutschlands erster und einziger Wildnisreferent. Der Landschaftsökologe sagt: „Wildnis sichert nicht nur Biodiversität, sondern ist auch ein nachgewiesen wirksames Mittel gegen den Klimawandel. Und davon abgesehen eine wunderbare Inspiration für uns Menschen!“ Deshalb müsse man auch in Deutschland viel mehr Verantwortung übernehmen: „Weltweit fordern wir den Schutz wilder Flächen ein, oft von viel ärmeren Nationen. Und vor der eigenen Haustür wird es plötzlich dünn.“

Luchs
Auf leisen Sohlen: Sehr langsam kommen auch die Luchse zurück. Im Pfälzerwald leben derzeit etwa zehn der Großkatzen | Foto: Daniel Rosengren/Wildnis-in-Deutschland.de

Wildnisfonds geplant

Doch da tut sich was. Zum Beispiel in Lieberose. Der Extruppenübungsplatz trägt seit Kurzem den Titel „Wildnisentwicklungsgebiet“. Die Bezeichnung zeigt: Wildnis ist schon längst auch ein erstrebenswertes Ziel für Büro­kraten geworden. So hat die GroKo einen „Wildnisfonds“ geplant, der dem Erreichen des nationalen „Wildnisziels“ dienen soll: Zwei Prozent der Bundesfläche – über 7000 Quadratkilometer – sollen für immer aus der menschlichen Nutzung genommen werden. Um der Natur ein freies Spiel zu lassen.

Dafür haben sich nun auch 18 Naturschutzverbände und -stiftungen zum Dachverbund „Wildnis in Deutschland“ zusammengefunden, zum Teil eigene Flächen zur Erreichung des Ziels eingebracht. „Entwicklungsgebiete“ braucht es, weil echte Wildnis hier so gut wie nicht mehr vorkommt. Am ehesten noch in den „Kernzonen“ der 16 Nationalparks, die vor menschlichen Eingriffen geschützt werden. Großflächige Wildnisgebiete aber stillen unsere neue Sehnsucht nach ursprünglichem Naturerleben, sagt Manuel Schweiger. Deshalb sind neue Nationalparks, bei der Gründung umstritten, schon bald regelrechte Tourismusmagneten.

15.000 Tier-, Pflanzen- und Pilzarten konnten im Bayerischen Wald nachgewiesen werden. Das sind ca. 20 Prozent aller heimischen Arten in einem Gebiet, das 0,07 Prozent der Bundesrepublik ausmacht.

Wildwuchs hilft der Natur

„Dass ein Wald aufgeräumt aussehen soll, finden immer weniger Menschen, die von früher so geprägt sind. Heute lernen die Kinder schon in der Schule, dass Wildwuchs der Natur hilft“, sagt Manuel Schweiger. Verblüffenderweise an Orten, die der Mensch besonders ausgebeutet hat. Wie in Lieberose. Oder in Bitterfeld, wo die Braunkohlebagger kreisten. Dort lockt, seit Jahren sich selbst überlassen, die „Goitzsche-Wildnis“ mit 48 Libellenarten und seltenen Vögeln wie Fischadler, Rohrdommel und Wendehals.

Zum Schluss noch eine gute Nachricht: Die hiesige Natur verfüge über die Gabe der Regeneration, erzählt Schweiger: Im Gegensatz zu tropischen Regenwäldern, die, einmal gerodet, für immer verschwunden sind, erholten sich Naturräume wie die Buchenwälder des hessischen Kellerwaldes und Thüringer Hainichs „zu unserem großen Glück schnell“. Oft schon innerhalb weniger Jahrhunderte, fügt er lächelnd hinzu.

6 Punkte für die Wildnis

  • SIE BELEBT
    Viele Menschen schätzen sie als Ausflugsziel. Sie ist ein Gegenpol zur stark genutzten Kulturlandschaft. Körper und Seele kommen zur Ruhe.
  • SIE RECHNET SICH
    Trinkwasser, Sauerstoff oder Pflanzenbestäubung – wir sind auf die Leistungen der Natur angewiesen. Ein unersetzliches Vermögen.
  • SIE MACHT SCHLAU
    Sie ist ein Eldorado für Forscher. Lösungen, die Tiere und Pflanzen finden, liefern Konzepte für Land- und Forstwirtschaft.
  • SIE HILFT DEM KLIMA
    Wälder, Moore und Auen wirken ausgleichend auf die Folgen des Klimawandels, senken die Kohlendioxidkonzentration der Atmosphäre.
  • SIE SCHÜTZT LEBENSRAUM
    In wilden Flussauen ist Hochwasser willkommen. Dort hat das Wasser genug Platz, und bewohnte Gebiete werden geschützt.
  • SIE SICHERT VIELFALT
    Viele Tiere und Pflanzen finden nur hier Lebensräume. Vernetzte Biotope erhöhen die Überlebenschancen für wandernde Arten.

Von Andreas Beerlage