Wir bedeutet Solidarität & Zusammenhalt

Das neue Wir

Sehnen wir uns nicht alle nach Gemeinschaft und Zugehörigkeit – in der Weihnachtszeit noch mehr als sonst? Wie gut, dass es Menschen gibt, die mutig und fantasievoll neue, solidarische Formen des Wohnens, Lebens und Arbeitens ausprobieren! Fünf solcher Projekte stellen wir Ihnen hier vor.

Gemütliches Wohnzimmer mit einem Kamin
Das gemütliche Wir | Foto: Stocksy

Sind wir eine Gesellschaft von Egoisten? Die Singlehaushalte nehmen zu, alte Menschen kümmern einsam und schlecht versorgt vor sich hin, alleinerziehende Mütter rutschen an den Rand des Existenzminimums, und die Eliten beschäftigen sich lieber mit Selbstoptimierung. Dass wir dabei sind, zu vereinsamen, fällt uns vor allem jetzt in der Weihnachtszeit auf, wo wir doch eigentlich mal aus dem Hamsterrad aussteigen und uns der Familie und Freunden widmen wollten. Auch der Soziologe und Autor Heinz Bude* fürchtet, dass wir zu einem Land von „Ichlingen“ mutieren.

*„Solidarität – die Zukunft einer großen Idee“, Hanser Verlag

Was wir brauchen? Ein neues Wir-Gefühl, das von Solidarität getragen ist.

„Wenn Sie solidarisch sind, fragen Sie nicht: Was steht dir zu, sondern: Was brauchst du?“, so Bude in einem Interview mit dem Deutschlandfunk, „Sie fragen nicht: Was bin ich verpflichtet zu geben, sondern: Was können wir miteinander teilen?“ Was wir brauchen, ist also ein Wir-Gefühl von Menschen, die zusammenhalten – nicht weil sie ohnehin einer Meinung sind oder zur gleichen Gruppe gehören, sondern gerade auch, wenn sie es nicht sind, wenn sie sehr verschieden sind.

Diese Sehnsucht nach einem neuen Miteinander spüren viele

Sie machen sich auf die Suche: nach neuen, solidarischen Formen des Arbeitens, des Wohnens und Lebens. Ein Ausdruck dafür ist zum Beispiel die Sharing-Idee: In den Städten nutzen die Bewohner Autos, Fahrräder und Scooter per App gemeinsam, aber auch Rasenmäher, Heckenscheren und Bohrmaschinen. Senioren schließen sich zu Wohngemeinschaften zusammen, weil das mehr Nestwärme bedeutet als ein Leben in einem großen Altenheim. Familien ziehen in Gemeinschaftswohnprojekte oder in sogenannte Ökodörfer, um hier ihren Traum von Gemeinschaft und einem naturverbundenen Leben wahr werden zu lassen. Engagierte Grüppchen beleben halb ausgestorbene Dörfer neu. Die Menschen, die sich zu solchen Projekten zusammenschließen, sind nicht von materiellen Gedanken angetrieben, sondern von ideellen. Die gemeinsame Vision ist es, die Kraft gibt, nicht das Geld, das man dabei verdient. Sich mit anderen verbunden zu fühlen, in einem Verein, einem Jobteam, einer Wohngemeinschaft, das bedeutet Glück pur. Zusammen eine gute Zeit haben – das macht uns stark.

Fünf Beispiele für ein neues Wir:

Sie machen Hoffnung auf ein besseres, wärmeres Miteinander! *„Solidarität – die Zukunft einer großen Idee“, Hanser Verlag. Sehnen wir uns nicht alle nach Gemeinschaft und Zugehörigkeit – in der Weihnachtszeit noch mehr als sonst? Wie gut, dass es Menschen gibt, die mutig und fantasievoll neue, solidarische Formen des Wohnens, Lebens und Arbeitens ausprobieren! Fünf solcher Projekte stellen wir Ihnen hier vor. Sie machen Hoffnung: auf ein besseres, wärmeres Miteinander!

Das Food-Start-up LunchVegaz

Reisbowl
Ayurvedischer Genuss à la LunchVegaz

Wer ein Food-Start-up gründet, tut das gern im hippen Szeneviertel einer Stadt. LunchVegaz hat es genau umgekehrt gemacht – und ist von Berlin in die Provinz an der polnischen Grenze gezogen, ins 600-Seelen-Dorf Rothenklempenow. Das 15-köpfige Team produziert dort vegane, superleckere Fertiggerichte, die sie versenden (zum Beispiel an Kantinen) und im Handel vertreiben. Es gibt sie auch bei tegut…!  Das Besondere: Das Team arbeitet nicht nur zusammen, sondern lebt ein intensives „Wir“. „Die Mitarbeiter haben große Familien, die sich untereinander gut kennen“, sagt Govinda Thaler, der Geschäftsführer. „Einige fahren Rennrad, treffen sich auch nach Feierabend“, es gibt Spieleabende und Ausflüge, man kümmert sich umeinander.

Portrait Govinda Thaler
„Wir wollen etwas verändern, eine neue Kultur des Miteinanders schaffen“, sagt Govinda Thaler, einer der Gründer von LunchVegaz

Auch mit den Dörflern sind die Vegazler inzwischen ein Herz und eine Seele. Seinen ungewöhnlichen Vornamen verdankt Govinda der Leidenschaft seiner Eltern für das spirituelle Indien. Er ist mit dem Hinduismus aufgewachsen, hat in seinem Leben noch nie Fleisch gegessen. Auch seine Schwestern Ajullah und Jakanthy arbeiten im Team. Alle 15 schweißt eine Vision, eine Idee zusammen: mit LunchVegaz gesunde Mahlzeiten möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen. „Im Team verstehen wir uns nicht nur als Kollegen, die abends Tschüs sagen. Wir wollen etwas verändern, eine neue Kultur schaffen!“ Das gilt natürlich auch zu Weihnachten, da treffen sich alle Vegazler mit Kind und Kegel, um gemeinsam zu feiern.

„Wir sind wie eine große Familie!“, so Govinda. lunchvegaz.de

Leben mit Tieren – Familie,  Gefährten und Gehilfen

Kleiner Husky
Voneinander lernen: das Tier und wir

Ein Leben ohne Hund? Das kann sich Susanne Hansen aus der Lüneburger Heide absolut nicht vorstellen. Ihre Huskies Zeus und Akira holte sie aus einem Nothilfeprojekt, heute sind sie feste Familienmitglieder, die viel geben können: Trost und Schutz, Lebensfreude und Naturnähe.

„Blaue Augen mit schwarzem Rand – perfekte Smokey Eyes sehen mich an. Wenn Zeus und Akira ihren Lass-uns-was-unternehmen-Blick aufsetzen, kann ich nicht widerstehen. Unsere beiden Huskies gehören zur Familie, ich habe auch ein Islandpferd – das Leben mit Tieren ist mir einfach wichtig, ich übernehme gern Verantwortung. Und wie heißt es so schön: Traue niemandem, der nicht nett zu Tieren ist. Die Hunde geben viel: ein Verständnis ohne Worte, auch wenn es mir mal nicht so gut geht, und jede Menge Liebe und Lebensfreude. Dank ihnen bin ich viel draußen in der Natur, mein Mann und ich flitzen manchmal sogar mit dem Dog-Scooter über die Forstwege, das ist ein stabiler Roller, den die Hunde mit Vergnügen ziehen.

Die Nothilfe für Polarhunde

Portrait Susanne Hansen
Voneinander lernen: das Tier und wir

Zeus ist ein Weihnachtshund, er hat am 26. Dezember Geburtstag, Akira ist vier Wochen älter. Als sie ein Jahr alt waren, wurden sie abgegeben an die Nothilfe für Polarhunde. Das ist eine gemeinnützige Organisation, die sich um nordische Hunde kümmert, wenn sie ihr Zuhause verlieren oder nicht artgerecht gehalten werden können. Mein Mann und ich sind dort Mitglied. Logisch also, dass wir seit über 20 Jahren Huskies haben. Das ist ein Wir-Gefühl der besonderen Art. Es sind sehr eigenständige, eigenwillige Tiere. Hat sich das Team aus Mensch und Hund aber erst einmal gebildet, dann ist es eine Gemeinschaft, die ewig hält. Letztes Weihnachten waren Zeus und Akira noch ganz frisch bei uns und etwas ängstlich. Dieses Jahr sind sie voll und ganz angekommen. Vielleicht akzeptieren sie diesmal auch den Tannenbaum, statt ihn als interessantes Spielzeug zu rupfen …“  polarhunde-nothilfe.com

Vereine in Deutschland

Rund 600.000 Vereine gibt es in Deutschland. Wer nicht den richtigen findet (z. B. auf der Homepage seiner Stadt oder im vereinsverzeichnis.eu), gründet halt selbst einen. Wie das geht, erfährt man im Bundesverband bdvv.de

Gemeinsam alt werden: Der Senioren-Bauernhof

Portrait Guido Pusch
Guido Pusch, Betreiber des Bauernhofs in Marienrachdorf

Nicht einsam alt werden, allein in einer Wohnung oder einem lieblosen Heim. Eine Aufgabe haben, Freunde, Tiere um sich: In der Senioren-Wohnge­meinschaft auf dem Westerwälder Hof in Marien­rachdorf finden Senioren all das. Auch Demente und Pflegebedürftige sind integriert in das ländliche Hofleben. Guido Pusch, Betreiber und Bauer (Bild l.), erzählt: „Der Hof ist seit 1771 in unserer Familie, wir haben ganz klassische Landwirtschaft, auf rund 25 Hektar. Die rentierte sich immer weniger – aber aufgeben kam nicht in Frage. Außerdem sollte Oma bis zu ihrem Lebensende bleiben können. So kam dann die Idee: Warum nicht noch weitere alte Menschen zu uns holen und eine Alten-WG gründen?

Mehrere Personen in einer Stube
Gebraucht werden: Hier auf dem Hof Marienrachdorf gibt es immer was zu tun

Unsere älteste Bewohnerin ist 95, der Jüngste 55. Alle haben ihre Aufgabe, fühlen sich wert­voll und gebraucht. Sie bringen unsere Gänse, das Pony und die Alpakas morgens auf die Weide, geben ihnen Wasser, füttern die Hühner. Manche pulen mittags die Erbsen. Das alles schaffen sie, meist mit Hilfe und unter Aufsicht der Pflegedienst­kollegen, ganz prima. Einige kommen vom Lande, für sie ist das ganz normal. Tagsüber kuscheln sie mit Katz und Hund, besuchen die Kühe. Für Demente ist das wunderbar. Unser Hof ist mitten im Ort, wir haben eine tolle Gemeinschaft. Das schätzen auch Altenpfleger, die eine liebevollere Betreuung wollen, als sie in normalen Heimen geben könnten. Zum Weihnachtsfest planen wir dieses Jahr etwas ganz Besonderes: eine lebendige Krippe. Die Idee kam von den Senioren. Sie wollen mit den Tieren eine Weihnachtskrippe darstellen, das Jesuskind ist allerdings schon ein Jahr alt und kommt aus meiner Verwandtschaft.“ Videos auf YouTube, „Bauernhof Pusch“.

Das schwäbische Gasthaus „Schwanen“

Gasthaus „Schwanen“ Außenansicht
Das schwäbische Gasthaus „Schwanen“.

Ein Dorf ohne sein Herz? Sein altes Gasthaus leer, verfallen, traurig? Oh nein! In Nehren auf der Schwäbischen Alb gab es engagierte Bürger, die das ändern wollten. Sie schlossen sich zusammen – und siehe da: Heute ist das alte Fachwerkhaus ein Schmuckstück, das mit gutem Essen und viel Kultur lockt. Erzieherin Tanja Schmidt ist von Anfang an im Vorstand des Vereins „Freunde des Schwanen“.

Frau Schmidt, wie kam das alles? Wir sind ein Dorf mit rund 4200 Einwohnern, und mittendrin steht der „Schwanen“. Es gab keinen Pächter mehr, das Haus drohte zu verfallen. Unsere erste Idee: eine Kunstausstellung. Zum Start 2017 hatten wir dafür nur einen Tag geöffnet, dann an zwölf Freitagen – und jedes Mal war das ganze Dorf auf den Beinen, wir sind regelrecht überrannt worden!

Dann haben wir richtig losgelegt. Wir wollten einen Ort schaffen, an dem es ganz ungezwungene Gemeinschaft gibt, wo jeder sein kann, wie er ist. Wir gründeten eine Genossenschaft und renovierten, haben jetzt ein Restaurant, es gibt Tanznächte, Konzerte, Ausstellungen. Der „Schwanen“ ist für viele wieder der Mittelpunkt des Dorfes. Sooo viele haben sich engagiert und dabei neue Freundschaften geknüpft. Man trifft sich, redet sich über neuen Ideen die Köpfe heiß. Unglaublich, wie der „Schwanen“ die Menschen verbindet! Welche Erfahrung möchten sie gern weitergeben? „Das geht nicht“ – das gibt es nicht mehr für mich. Meine Haltung gegenüber vielem, was unmöglich erscheint, hat sich komplett geändert. Heute weiß ich: Was der Einzelne nicht schafft, schafft man in Gemeinschaft.“ schwanen-nehren.de

Gemeinsam stark: Leben im Beginenhof

Mehrere Menschen tanzen
Ob alt oder jung, Mutter oder Witwe — die Beginenhöfe bieten Frauen Unterstützung durch Gemeinschaft| Foto: Ulla Franke

Beginen? Gab’s die nicht im Mittel­alter, so eine christliche Frauen­gemeinschaft? Stimmt. Was kaum einer weiß: Es gibt sie noch heute. Waltraud Pohlen ist eine von ihnen, sie lebt im Beginenhof Essen. „Wir knüpfen an eine uralte Tradition von Stärke und Gemeinschaft an“, sagt sie.

Die begann vor 900 Jahren, als Frauen, die selbstständig leben wollten, in Höfen zusammenzogen. Sie waren un­abhängig von der Kirche, legten kein Gelübde ab und widmeten sich der Nächstenliebe nach eigenen Regeln. Seit etwa 1985 tun das Beginen in Deutschland wieder, „Vom Ich zum Wir“ ist ihre Vision. 18 Höfe gibt es derzeit, sie sind ausschließlich für Frauen jeden Alters gedacht, gern auch für alleinerziehende Mütter – hier sind sie eben nicht mehr allein.

Wohnanlage mit Gemeinschaftsraum

Portrait Waltraud Pohlen
Leben im Beginenhof | Foto: Waltraud Pohlen

„Der Wunsch nach einer verlässlichen Gemeinschaft ist wirklich groß“, so Pohlen, die im Beginen-Dachverband arbeitet, „also auch die Nachfrage nach einer unserer Wohnungen.“ Eine Frau, die sich für ein Leben dort entscheidet, wohnt nicht etwa in einem alten Kloster, sondern in modernen Anlagen mit bezahlbaren Wohnungen und großen Gemeinschaftsräumen. Verbundenheit mit anderen Frauen und gegenseitige Unterstützung spielen eine wichtige Rolle. „Aber Zwänge gibt es nicht, wir möchten“, so Waltraud Pohlen, „dass alles, was jemand für die Gemeinschaft tut, freiwillig ist.“ Und ja, auch der spirituelle Gedanke ist vielen Beginen selbstverständlich. „Es ist einfach unglaublich aufregend und spannend“, so Pohlen, „ein solches gesellschaftliches Experiment mitzugestalten!“ dachverband-der-beginen.de

Das Netzwerk für Nachbarschaft

Viele Hände übereinander

Das netzwerk-nachbarschaft.net macht sich seit 2004 dafür stark, dass Aktionen von Nachbargemeinschaften bundesweit bekannt werden und Nachahmer finden. Hier gibt’s Rat und Ideen zuhauf! Und unter nebenan.de lassen sich Projekte in der eigenen Umgebung finden.

Sie wollen Weihnachten oder Silvester nicht einsam verbringen? Bei der Aktion keinerbleibtallein.net können sich Menschen anmelden, die allein sind – und Menschen, die gern andere einladen. Der von der evangelischen Kirche unterstützte Verein bringt sie zusammen, seit 2016.

Von Von Susanne Walsleben